Die Presse

Zu viele offene Fragen nach Mord

Ermittlung. Nach dem gewaltsame­n Tod einer Siebenjähr­igen stehen diverse Spekulatio­nen im Raum. Psychologi­n Sandra Pitzl erklärt, dass Gerüchte auch eine Schutzfunk­tion haben können.

- VON CHRISTOPH AUFREITER UND KARIN SCHUH

Die Ermittlung­en nach dem Mord an einem siebenjähr­igen Mädchen laufen. Nicht nur im Döblinger Gemeindeba­u wird spekuliert.

Wien. Sorgfältig breitet ein älterer Tschetsche­ne seinen Gebetstepp­ich auf der Wiese des Dittes-Hofs in Wien Döbling auf. Er schaut auf seinen Kompass und überprüft, ob die Richtung nach Mekka stimmt. Dann betet er. Neben ihm brennen Dutzende Kerzen. Auch Stofftiere und Kinderzeic­hnungen sind aufgereiht. Es ist der Ort, wo vergangene­n Samstag die Leiche eines siebenjähr­igen Mädchens von der Polizei in einem Müllcontai­ner entdeckt wurde.

Seitdem herrscht in der Siedlung stumme Angst. Die Mütter sitzen aufmerksam am Rand des Spielplatz­es in dem Innenhof und beobachten ihre Kinder. „Solange die den Täter noch nicht haben, lass ich sie keine Sekunde aus den Augen“, sagt eine Bewohnerin. Ihre Tochter malt nur zwei Meter vor ihr etwas mit Kreide auf den Beton. Das siebenjähr­ige Opfer kennt hier jeder. „Die Kinder wissen schon, dass sie nicht mehr da ist. Aber ich glaube, sie können das alles noch nicht richtig erfassen.“

Schutzfunk­tion von Gerüchten

Das geht nicht nur den Kindern so. Es sind zu viele Fragen, die noch offen sind: vor allem jene nach dem Täter und jene nach dem Warum, nach dem Motiv.

Je mehr Fragen unbeantwor­tet sind, desto eher neigt man aber offensicht­lich dazu, sich Antworten zurechtzul­egen. Das reicht von wilden Gerüchten und Spekulatio­nen im Dittes-Hof, einem Gemeindeba­u (und darüber hinaus), wer hinter der Tat stecken könnte. Nachbarn werden beschuldig­t. Wer nett zu fremden Kindern (und ein Mann) ist, wird schnell verdächtig­t. Bis hin zu rassistisc­hen Hasspostin­gs im Internet, die die Herkunft des Mädchens – die Eltern stammen aus Tschetsche­nien – in den Vordergrun­d stellen.

Selbst die Polizei fühlte sich am Montagnach­mittag veranlasst, ausdrückli­ch darauf hinzuweise­n, Spekulatio­nen, Mutmaßunge­n, Falschmeld­ungen und Gerüchte zu unterlasse­n, da diese den Ermittlung­en nicht dienlich sind.

Vermeiden lassen sie sich ob der drängenden Fragen allerdings nicht. „Es ist in der Notfallsps­ychologie ganz wichtig, dass Menschen möglichst viele Informatio­nen bekommen. Wenn man nicht weiß, wer der Täter ist – und das tagelang, führt das zu großer Verunsiche­rung“, erklärt Sandra Pitzl, stellvertr­etende Leiterin der Fachsektio­n Notfallpsy­chologie im Berufsverb­and Österreich­ischer Psychologe­n, der „Presse“.

Die Unsicherhe­it führe zu Mutmaßunge­n und Gerüchten, mit denen man die Kontrolle wiedererla­ngen möchte. „Dann ist es leichter, so etwas auszuhalte­n. Man ver- sucht, Antworten zu finden, um der Angst entgegenzu­steuern und um nicht ganz ausgeliefe­rt zu sein.“Der Wunsch nach Klarheit ist offenbar so groß, dass Menschen lieber eine falsche Informatio­n haben als gar keine. Das sei auch eine Art Schutzfunk­tion.

Es gehe offensicht­lich darum, das Geschehen einzuordne­n, zu strukturie­ren und der Hilflosigk­eit zu entkommen. „Die Kontrolle habe ich leichter, wenn ich jemandem die Schuld geben kann“, so die Psychologi­n. Je dramatisch­er und unerklärli­cher eine Tat ist, desto eher haben wir das Bedürfnis, sie zu erklären. Immerhin gehe mit so einer Tat eine „Erschütter­ung des eigenen Weltbildes“einher.

Wie man es Kindern erklärt

Hinzu komme auch die Angst, dass den eigenen Kindern so etwas passiert. Natürlich sei es sinnvoll, derzeit (vor allem in unmittelba­rer Umgebung) besonders vorsichtig zu sein. Allzu drastische Maßnahmen, die Kinder verstören, sollte man aber nicht vornehmen. Pitzl rät auch dazu, Kindern, die die Tat (etwa über Medien) mitbekomme­n haben, nichts zur verheimlic­hen – vor allem, wenn sie nachfragen –, sie aber auch nicht mit Details zu belasten. „Man sollte sachlich bleiben und sich an den Fakten orientiere­n. Kinder holen sich die Informatio­n, die sie brauchen und wissen auch, wann es ihnen zu viel ist.“Lieber auf die Fragen der Kinder gezielt antworten und ehrlich sein. „Eltern müssen nicht alles wissen. Da kann man ruhig sagen, dass die Polizei daran arbeitet und man noch nicht alles weiß.“

Mehr können derzeit auch die Bewohner des Dittes-Hofs ihren Kindern nicht sagen. Der ältere Bruder des Opfers geht mit hängendem Kopf über den Hof. Er kommt gerade von der psychologi­schen Betreuung.

Vor den brennenden Kerzen und den Kinderzeic­hnungen bleibt er stehen. Wortlos schaut er auf die abgelegten Rosen und Stofftiere. Der ältere Tschetsche­ne beendet sein Gebet, rollt seinen Teppich zusammen und nickt dem Hinterblie­benen zu.

 ?? [ Clemens Fabry] ?? Auf dem Spielplatz im Gemeindeba­u Dittes-Hof in Wien Döbling wurde die Siebenjähr­ige zuletzt gesehen.
[ Clemens Fabry] Auf dem Spielplatz im Gemeindeba­u Dittes-Hof in Wien Döbling wurde die Siebenjähr­ige zuletzt gesehen.

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