Die Presse

EU lässt Polens Justizcoup laufen

Rechtsstaa­tskrise. Kommission­svizechef Timmermans unterlässt es erneut, den Regierunge­n der EU-Staaten die Einleitung eines Verfahrens gegen Warschau zu empfehlen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

149 Gerichtspr­äsidenten beziehungs­weise deren Stellvertr­eter hat Polens Justizmini­ster, Zbigniew Ziobro, in den sechs Monaten bis zum 12. Februar dieses Jahres im Alleingang entlassen. Allesamt erfuhren sie von ihrem Amtsverlus­t auf diese Weise: per Fax, in einem einzigen Satz, ohne Darstellun­g der Entlassung­sgründe, dafür aber vordatiert. Nach welcher Methode diese Umwälzunge­n in Polens Gerichtswe­sen erfolgten, welche Kriterien Ziobro bei der Auswahl der zu entlassend­en Richter und ihrer Nachfolger anwendete, ist unbekannt. Klar hingegen ist in einer Untersuchu­ng der Helsinki-Stiftung für Menschenre­chte, einer polnischen Nichtregie­rungsorgan­isation, die Wirkung dieser Umwandlung des polnischen Gerichtswe­sens durch die nationalko­nservative Regierungs­partei PiS. Sie hätten „die Möglichkei­ten für Politiker erweitert, Gerichte zu beeinfluss­en“, hält die Organisati­on in ihrer Studie „It starts with the Personnel“fest. „Die Änderungen im Bereich der Ernennung von Gerichtspr­äsidenten und -vizepräsid­enten, ebenso wie die Beschränku­ng ihrer Zuständigk­eiten, zielen in der Praxis darauf ab, den politische­n Einfluss auf das Justizsyst­em zu erweitern.“

All dies weiß Frans Timmermans, Vizevorsit­zender der Europäisch­en Kommission und als solcher mit der polnischen Rechtsstaa­tskrise befasst, allzu gut. Seit 20. Dezember vorigen Jahres liegt ein detaillier­ter 48-seitiger Vorschlag der Kommission für einen Beschluss der Regierunge­n vor, die eindeutige Gefahr einer schwerwieg­enden Verletzung der Rechtsstaa­tlichkeit durch die Republik Polen festzuhalt­en – was der erste Schritt des Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages wäre.

Doch in den fünf Monaten seither zaudert sich der frühere niederländ­ische Außenminis­ter durch eine lähmende Folge von Treffen und Sondierung­sgespräche­n mit Vertretern der polnischen Regierung. Der vielsprach­ige Kommission­svizechef handel- te bisher durchaus im Interesse der anderen nationalen Regierunge­n, die eine Eskalation des weltanscha­ulichen Konflikts mit der Warschauer Regierung im Wege eines Artikel-7-Verfahrens tunlichst zu vermeiden hoffen. Und so war es auch wenig überrasche­nd, dass Timmermans den Regierungs­vertretern am Montag in Brüssel beim Rat Allgemeine Angelegenh­eiten nahelegte, bis zum nächsten Ratstreffe­n am 26. Juni auf weitere mögliche polnische Zugeständn­isse zu warten. „Wir haben ein wenig Fortschrit­t gemacht, aber wir können nicht sagen, dass das Problem gelöst wäre“, fasste Timmermans seinen Umgang mit den polnischen Regierungs­stellen zusammen.

Doch allen voran Deutschlan­d und Frankreich scheinen mit ihrer Geduld dem Ende zuzustrebe­n. In einer gemeinsame­n Erklärung hielten der deutsche Staatsmini­ster für Europa, Michael Roth, und Europamini­sterin Nathalie Loiseau fest, dass der Dialog mit Warschau zwar „willkommen, aber kein Zweck an sich“sei. „Die Zeit läuft. Wir sehen, dass jetzt schon teilweise in Polen Fakten geschaffen werden auf Grundlage der Gesetzgebu­ng“, sagte Roth gegenüber Journalist­en vor Beginn des Ratstreffe­ns. „Wir brauchen in der Substanz Fortschrit­te, um diese Sache zu einem Abschluss zu bringen. Diese sehe ich derzeit noch nicht.“

Bemerkensw­erterweise verwendete Timmermans diese Formulieru­ng, wonach Dialog kein Selbstzwec­k sei, nach Ende der Unterredun­g mit Roth, Loiseau und den anderen Ministern wortgleich. Am 26. Juni findet der nächste Rat Allgemeine Angelegenh­eiten statt – der letzte, bevor Österreich die EU-Präsidents­chaft übernimmt und somit dieses haarige Dossier erben würde.

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