Man brüstet sich nicht auf Kosten von Vertriebenen
Zur Rede von Michael Köhlmeier am Gedenktag im Parlament 2018.
Wenn ein Schriftsteller, der sich in Fiktion übt, keine Märchen mehr glaubt, und nicht mehr so tun will, dann bewahrt er sich genau die Sensibilität, die Österreich Schritt für Schritt nach Hunderten Einzelfällen abhanden gekommen ist. Deshalb verweist er auf die faschistischen Wurzeln der Ideologie der FPÖ und auf die Verantwortung des Bundeskanzlers, wenn dieser in historischer Unbedarftheit schwelgt. Es mutete skurril an, dass Politiker in den Reihen des Parlamentes saßen, die taten, als ob sie in jüngster Zeit keine antisemitische Hetze betrieben hätten. Köhlmeier las ihnen die Leviten.
Der Bundeskanzler wird als ein sich Brüstender bezeichnet, weil er Flüchtlingsrouten geschlossen hat. Das Schiff Saint Louis fuhr 1939 mit 937 Juden auf der Suche nach Asyl über die Weltmeere. Die Flüchtlinge wurden in Havanna, Florida usw. abgewiesen und landeten wieder in Europa, wo Nazideutschland einen Großteil ermordete.
Die Konferenz von Evian 1938 war gescheitert, weil sich 32 antifaschistische Länder nicht auf eine Flüchtlingsquote und Aufnahme der gefährdeten europäischen Juden einigen wollten. Golda Meir, die bei dieser Konferenz dabei war, schrieb in ihr Tagebuch: „Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind, Menschen, die ihr Leben in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen, wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“
Angela Merkel hat 2015 die Grenzen für die Flüchtlinge geöffnet. Und sie hat den Flüchtlingsstrom gestoppt mit dem Erdogan-˘Deal. Kurz brüstet sich also mit einer Handlung, die keinen Effekt hatte.
An Orbans´ Grenze wurden die Flüchtlinge 2015 angehalten, und ihnen wurde das Brot über den Zaun zugeschmissen. In Österreich verhinderte die Zivilgesellschaft die humanitäre Katastro- phe, weil die Regierung mit Kurz als Außenminister versagt hatte. Das erste Mal jedenfalls, dass ich vom Bundeskanzler eine Regung auf Entgleisungen seines Regierungspartners vernehme, über den Umweg der Köhlmeier-Rede, lässt auf seine Gekränktheit schließen. Er sieht sich als Kollaborateur der Nazis bezeichnet.
Vielmehr ist aber sein Effizienzstreben mit Ausnutzung des Ressentimentspotenzials der Wähler bezeichnet. Es geht um die kleinen Schritte, die in einer gezielten Marketingkampagne gipfeln. Wieso investiert eine Partei Millionen, um eine Bevölkerungsschicht zu desavouieren, wenn sie nicht das Ziel hat, diese Schicht eines Tages zum Sündenbock zu stempeln und weiterzugehen, als man sich ausdenken mag? Und wieso gelingt ihm die Koalition trotz der Naziliederbücher und Soros-Hetze?
Das Wort Kollaborateur ist in Köhlmeiers Rede nicht gefallen. Viel eher war zu verstehen, man brüstet sich nicht auf Kosten von Vertriebenen, die man nicht unkontrolliert, aber im Rahmen der Verfassung zu retten hat. Die Diskussion danach hat geklärt, dass der Bundeskanzler in der Trotzphase reagiert und mit dem Vorbild des einstigen Schweigekanzlers nicht verschmilzt.
Vielleicht gibt es die Hoffnung, dass sich zahlreiche andere Menschen in diesem Land, die sich nicht von dieser Marketingkampagne haben blenden lassen, im Schatten von Köhlmeier den Mut haben, die Stimme zu erheben. Der Erzähler hat viele Ohren der bürgerlichen Bildungsschicht erreicht und von ihr Zuspruch erhalten. Die FPÖ, fest in der Hand der rechtsradikalen Burschenschaften, wird immer scheinheilig ihren völkischen Dünkel bewahren, oder sie wird sich auflösen.