Die Presse

Man brüstet sich nicht auf Kosten von Vertrieben­en

Zur Rede von Michael Köhlmeier am Gedenktag im Parlament 2018.

- VON LYDIA MISCHKULNI­G Lydia Mischkulni­g (* 1963 in Klagenfurt) ist Schriftste­llerin und lebt in Wien. Zuletzt erschienen: „Die Paradiesma­schine“(Haymon).

Wenn ein Schriftste­ller, der sich in Fiktion übt, keine Märchen mehr glaubt, und nicht mehr so tun will, dann bewahrt er sich genau die Sensibilit­ät, die Österreich Schritt für Schritt nach Hunderten Einzelfäll­en abhanden gekommen ist. Deshalb verweist er auf die faschistis­chen Wurzeln der Ideologie der FPÖ und auf die Verantwort­ung des Bundeskanz­lers, wenn dieser in historisch­er Unbedarfth­eit schwelgt. Es mutete skurril an, dass Politiker in den Reihen des Parlamente­s saßen, die taten, als ob sie in jüngster Zeit keine antisemiti­sche Hetze betrieben hätten. Köhlmeier las ihnen die Leviten.

Der Bundeskanz­ler wird als ein sich Brüstender bezeichnet, weil er Flüchtling­srouten geschlosse­n hat. Das Schiff Saint Louis fuhr 1939 mit 937 Juden auf der Suche nach Asyl über die Weltmeere. Die Flüchtling­e wurden in Havanna, Florida usw. abgewiesen und landeten wieder in Europa, wo Nazideutsc­hland einen Großteil ermordete.

Die Konferenz von Evian 1938 war gescheiter­t, weil sich 32 antifaschi­stische Länder nicht auf eine Flüchtling­squote und Aufnahme der gefährdete­n europäisch­en Juden einigen wollten. Golda Meir, die bei dieser Konferenz dabei war, schrieb in ihr Tagebuch: „Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten Zahlen menschlich­e Wesen sind, Menschen, die ihr Leben in Konzentrat­ionslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen, wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“

Angela Merkel hat 2015 die Grenzen für die Flüchtling­e geöffnet. Und sie hat den Flüchtling­sstrom gestoppt mit dem Erdogan-˘Deal. Kurz brüstet sich also mit einer Handlung, die keinen Effekt hatte.

An Orbans´ Grenze wurden die Flüchtling­e 2015 angehalten, und ihnen wurde das Brot über den Zaun zugeschmis­sen. In Österreich verhindert­e die Zivilgesel­lschaft die humanitäre Katastro- phe, weil die Regierung mit Kurz als Außenminis­ter versagt hatte. Das erste Mal jedenfalls, dass ich vom Bundeskanz­ler eine Regung auf Entgleisun­gen seines Regierungs­partners vernehme, über den Umweg der Köhlmeier-Rede, lässt auf seine Gekränkthe­it schließen. Er sieht sich als Kollaborat­eur der Nazis bezeichnet.

Vielmehr ist aber sein Effizienzs­treben mit Ausnutzung des Ressentime­ntspotenzi­als der Wähler bezeichnet. Es geht um die kleinen Schritte, die in einer gezielten Marketingk­ampagne gipfeln. Wieso investiert eine Partei Millionen, um eine Bevölkerun­gsschicht zu desavouier­en, wenn sie nicht das Ziel hat, diese Schicht eines Tages zum Sündenbock zu stempeln und weiterzuge­hen, als man sich ausdenken mag? Und wieso gelingt ihm die Koalition trotz der Nazilieder­bücher und Soros-Hetze?

Das Wort Kollaborat­eur ist in Köhlmeiers Rede nicht gefallen. Viel eher war zu verstehen, man brüstet sich nicht auf Kosten von Vertrieben­en, die man nicht unkontroll­iert, aber im Rahmen der Verfassung zu retten hat. Die Diskussion danach hat geklärt, dass der Bundeskanz­ler in der Trotzphase reagiert und mit dem Vorbild des einstigen Schweigeka­nzlers nicht verschmilz­t.

Vielleicht gibt es die Hoffnung, dass sich zahlreiche andere Menschen in diesem Land, die sich nicht von dieser Marketingk­ampagne haben blenden lassen, im Schatten von Köhlmeier den Mut haben, die Stimme zu erheben. Der Erzähler hat viele Ohren der bürgerlich­en Bildungssc­hicht erreicht und von ihr Zuspruch erhalten. Die FPÖ, fest in der Hand der rechtsradi­kalen Burschensc­haften, wird immer scheinheil­ig ihren völkischen Dünkel bewahren, oder sie wird sich auflösen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria