Chronik einer angekündigten Katastrophe
Warum die Hamas Palästinenser in den sicheren Tod treibt und Israels Armee scharf schießt. Eine Rekonstruktion.
Jahr für Jahr gedenken die Palästinenser am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung 1948, der „Katastrophe“(al-Nakba). Heuer war die Stimmung besonders düster. Im Gazastreifen trugen die Palästinenser 60 Tote zu Grabe, die am Vortag beim Versuch, den israelischen Grenzwall zu überwinden, erschossen worden waren. Nach der Trauer bahnten sich neue Unruhen an. Wieder einmal blickt die Welt entsetzt und gebannt zugleich auf die Krisenregion. Doch wie kam es überhaupt zur neuen Eskalation? Eine Rekonstruktion in Fragen und Antworten.
1 Welches Ziel verfolgen die Palästinenser mit ihrem Großen Marsch der Rückkehr?
Seit dem 30. März demonstrieren die Palästinenser im Grenzgebiet des Gazastreifens, um das Rückkehrrecht der vor 70 Jahren nach der Gründung Israels Vertriebenen einzufordern und auf die Not der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Die Initiative ging zunächst von dem palästinensischen Journalisten Muthana al-Nadschar aus, der mit einem Zelt das Schicksal der Flüchtlinge symbolisieren wollte.
Die Hamas, die seit elf Jahren den Gazastreifen kontrolliert, hat sich seine Idee zu eigen gemacht und an alle palästinensischen Fraktionen appelliert, sich dem erklärtermaßen friedlichen Protest anzuschließen. Die islamistische Führung versucht, mit den Demonstrationen von ihren eigenen Fehlleistungen abzulenken. Sie ruft die Bevölkerung zur Teilnahme auf, organisiert Busse zur Grenzregion und lockt junge Palästinenser mit einem Preisgeld dazu, die israelischen Überwachungskameras an den Grenzanlagen abzumontieren. Damit treiben die Islamisten die Jugendlichen direkt ins Visier der israelischen Scharfschützen. Erklärtes Ziel der Protestaktion ist, mit dem Massenprotest die Grenzanlagen einzureißen und die „Belagerung“des Gazastreifens zu beenden.
2 Wie ist die hohe Risikobereitschaft der Demonstranten zu erklären?
Die humanitäre Lage im Gazastreifen verschärft sich zunehmend. Für die hohen Arbeitslosen- und Armutszahlen gibt es eine Reihe von Gründen: etwa die Abriegelung durch Israel, mehrere Kriege und den Streit zwischen den beiden großen palästinensischen Parteien, der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas und der in Gaza herrschenden islamistischen Hamas. Seit Monaten versucht Abbas, die Hamas zur Machtaufgabe in Gaza zu zwingen. Er kürzte die Zahlungen für die öffentliche Infrastruktur, für Strom und Wasser. Außerdem zahlt die Palästinensische Autonomiebehörde nur noch sporadisch und teilweise die Gehälter von Zigtausenden Beamten in Gaza. Die akute Not zusätzlich erschwerend hat USPräsident Donald Trump angekündigt, ein Drittel der Zahlungen an die UN-Behörde UNRWA einzufrieren, die sich um palästinensische Flüchtlinge sorgt.
3 Welchen Befehl haben die israelischen Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen?
Israel hat mehrere Tausend Soldaten zur Unterstützung des üblichen Militärs in der Grenzregion postiert, darunter Hunderte Scharfschützen. Ihr Auftrag lautet, auf jeden zu schießen, der sich dem Grenzzaun nähert. Grund für das harte Vorgehen der Armee ist die Angst Israels vor Hamas-Terroristen, die sich unter dem Deckmantel des zivilen Protests einschleichen könnten, um Israelis zu entführen oder zu ermorden. Schon im Vorfeld des Großen Marschs der Rückkehr war es mehreren Terrorkommandos gelungen, die Grenzanlagen zu durchdringen. Alle wurden entdeckt, bevor sie Schaden anrichten konnten.
4 Haben die USA unter Präsident Donald Trump Öl ins Feuer gegossen?
Das Weiße Haus disqualifizierte sich nach dem Alleingang von US-Präsident Donald Trump, der über die Anerkennung Jerusalems und den Umzug der US-Botschaft entschied, als neutraler Vermittler im nahöstlichen Friedensprozess. Die Beziehungen zwischen der PLO und Washington liegen auf Eis, und damit auch jede Perspektive auf Friedensverhandlungen. Die USA wollen, solang Trump Präsident ist, gegen jede antiisraelische Resolution im UN-Sicherheitsrat ein Veto einlegen und verhinderten so auch eine Untersuchung der tödlichen Vorfälle im Grenzgebiet. Israels Premier, Benjamin Netanjahu, genießt volle US-Rückendeckung.
5 Wer könnte vermitteln, um die aufgeheizte Lage zu beruhigen?
Das einzige Land, das über einen guten Draht sowohl zu den beiden palästinensischen Führungen als auch zu Israel verfügt, ist Ägypten. Die Regierung in Kairo versuchte im Vorfeld der absehbaren Gewalt, die Hamas von den Protesten abzubringen. Ägypten bot an, im Gegenzug für ein Protest-Ende Medikamente und den für die Stromerzeugung nötigen Treibstoff zu liefern, blitzte aber letztlich ab. Die Islamisten sind unter sich zerstritten. Während die pragmatische Fraktion auf Zusammenarbeit mit den moderateren sunnitischen Staaten setzt, halten sich die islamistischen Fanatiker lieber an die Führung in Teheran.