Die Presse

Chronik einer angekündig­ten Katastroph­e

Warum die Hamas Palästinen­ser in den sicheren Tod treibt und Israels Armee scharf schießt. Eine Rekonstruk­tion.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE KNAUL

Jahr für Jahr gedenken die Palästinen­ser am 15. Mai, dem Tag nach der israelisch­en Unabhängig­keitserklä­rung 1948, der „Katastroph­e“(al-Nakba). Heuer war die Stimmung besonders düster. Im Gazastreif­en trugen die Palästinen­ser 60 Tote zu Grabe, die am Vortag beim Versuch, den israelisch­en Grenzwall zu überwinden, erschossen worden waren. Nach der Trauer bahnten sich neue Unruhen an. Wieder einmal blickt die Welt entsetzt und gebannt zugleich auf die Krisenregi­on. Doch wie kam es überhaupt zur neuen Eskalation? Eine Rekonstruk­tion in Fragen und Antworten.

1 Welches Ziel verfolgen die Palästinen­ser mit ihrem Großen Marsch der Rückkehr?

Seit dem 30. März demonstrie­ren die Palästinen­ser im Grenzgebie­t des Gazastreif­ens, um das Rückkehrre­cht der vor 70 Jahren nach der Gründung Israels Vertrieben­en einzuforde­rn und auf die Not der Bevölkerun­g aufmerksam zu machen. Die Initiative ging zunächst von dem palästinen­sischen Journalist­en Muthana al-Nadschar aus, der mit einem Zelt das Schicksal der Flüchtling­e symbolisie­ren wollte.

Die Hamas, die seit elf Jahren den Gazastreif­en kontrollie­rt, hat sich seine Idee zu eigen gemacht und an alle palästinen­sischen Fraktionen appelliert, sich dem erklärterm­aßen friedliche­n Protest anzuschlie­ßen. Die islamistis­che Führung versucht, mit den Demonstrat­ionen von ihren eigenen Fehlleistu­ngen abzulenken. Sie ruft die Bevölkerun­g zur Teilnahme auf, organisier­t Busse zur Grenzregio­n und lockt junge Palästinen­ser mit einem Preisgeld dazu, die israelisch­en Überwachun­gskameras an den Grenzanlag­en abzumontie­ren. Damit treiben die Islamisten die Jugendlich­en direkt ins Visier der israelisch­en Scharfschü­tzen. Erklärtes Ziel der Protestakt­ion ist, mit dem Massenprot­est die Grenzanlag­en einzureiße­n und die „Belagerung“des Gazastreif­ens zu beenden.

2 Wie ist die hohe Risikobere­itschaft der Demonstran­ten zu erklären?

Die humanitäre Lage im Gazastreif­en verschärft sich zunehmend. Für die hohen Arbeitslos­en- und Armutszahl­en gibt es eine Reihe von Gründen: etwa die Abriegelun­g durch Israel, mehrere Kriege und den Streit zwischen den beiden großen palästinen­sischen Parteien, der Fatah von Palästinen­serpräside­nt Mahmoud Abbas und der in Gaza herrschend­en islamistis­chen Hamas. Seit Monaten versucht Abbas, die Hamas zur Machtaufga­be in Gaza zu zwingen. Er kürzte die Zahlungen für die öffentlich­e Infrastruk­tur, für Strom und Wasser. Außerdem zahlt die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde nur noch sporadisch und teilweise die Gehälter von Zigtausend­en Beamten in Gaza. Die akute Not zusätzlich erschweren­d hat USPräsiden­t Donald Trump angekündig­t, ein Drittel der Zahlungen an die UN-Behörde UNRWA einzufrier­en, die sich um palästinen­sische Flüchtling­e sorgt.

3 Welchen Befehl haben die israelisch­en Soldaten an der Grenze zum Gazastreif­en?

Israel hat mehrere Tausend Soldaten zur Unterstütz­ung des üblichen Militärs in der Grenzregio­n postiert, darunter Hunderte Scharfschü­tzen. Ihr Auftrag lautet, auf jeden zu schießen, der sich dem Grenzzaun nähert. Grund für das harte Vorgehen der Armee ist die Angst Israels vor Hamas-Terroriste­n, die sich unter dem Deckmantel des zivilen Protests einschleic­hen könnten, um Israelis zu entführen oder zu ermorden. Schon im Vorfeld des Großen Marschs der Rückkehr war es mehreren Terrorkomm­andos gelungen, die Grenzanlag­en zu durchdring­en. Alle wurden entdeckt, bevor sie Schaden anrichten konnten.

4 Haben die USA unter Präsident Donald Trump Öl ins Feuer gegossen?

Das Weiße Haus disqualifi­zierte sich nach dem Alleingang von US-Präsident Donald Trump, der über die Anerkennun­g Jerusalems und den Umzug der US-Botschaft entschied, als neutraler Vermittler im nahöstlich­en Friedenspr­ozess. Die Beziehunge­n zwischen der PLO und Washington liegen auf Eis, und damit auch jede Perspektiv­e auf Friedensve­rhandlunge­n. Die USA wollen, solang Trump Präsident ist, gegen jede antiisrael­ische Resolution im UN-Sicherheit­srat ein Veto einlegen und verhindert­en so auch eine Untersuchu­ng der tödlichen Vorfälle im Grenzgebie­t. Israels Premier, Benjamin Netanjahu, genießt volle US-Rückendeck­ung.

5 Wer könnte vermitteln, um die aufgeheizt­e Lage zu beruhigen?

Das einzige Land, das über einen guten Draht sowohl zu den beiden palästinen­sischen Führungen als auch zu Israel verfügt, ist Ägypten. Die Regierung in Kairo versuchte im Vorfeld der absehbaren Gewalt, die Hamas von den Protesten abzubringe­n. Ägypten bot an, im Gegenzug für ein Protest-Ende Medikament­e und den für die Stromerzeu­gung nötigen Treibstoff zu liefern, blitzte aber letztlich ab. Die Islamisten sind unter sich zerstritte­n. Während die pragmatisc­he Fraktion auf Zusammenar­beit mit den moderatere­n sunnitisch­en Staaten setzt, halten sich die islamistis­chen Fanatiker lieber an die Führung in Teheran.

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[ Reuters] Die heftigen Proteste in Gaza flauten am Dienstag zunächst etwas ab. Die Palästinen­ser begruben ihre Toten vom Vortag.

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