Warum al-Qaida den IS überleben dürfte
Analyse. Die Erben von Osama bin Laden sind fast unbemerkt und im Schatten des IS erstarkt. Ihr Netzwerk reicht um den halben Globus.
Ein Standbild zeigt die historische Altstadt von Jerusalem. Die goldene Kuppel des Felsendoms ragt hervor. Eine arabische Stimme aus dem Off ist zu hören, sie ruft zum Jihad auf und wettert gegen die USA, die „modernen Kreuzzügler“und „ersten Feinde der Muslime“. Die vierminütige Botschaft spricht Ayman al-Zawahiri, der weißbärtige Anführer der Terrororganisation al-Qaida. Anlass ist die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem. Schon Zawahiris 2011 getöteter Vorgänger, Osama bin Laden, hat mit der Palästinenserfrage junge Gotteskrieger für al-Qaida angeworben.
Botschaften Zawahiris sind rar. Der 66-jährige ausgebildete Chirurg brach sein öffentliches Schweigen zuletzt nur ein einziges Mal, als in seiner Heimat Ägypten die Wiederwahl des ihm verhassten Präsidenten Abdel Fatah al-Sisi anstand. Aber sonst: Es war ruhig um al-Qaida. Jahrelang saugte die neue Jihad-Konkurrenz, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die Aufmerksamkeit und Ängste der Weltöffentlichkeit auf. Es klingt zynisch, aber: Terroristen, die Aufmerksam- keit wollten, mordeten fortan unter dem schwarzen IS-Banner. Es gab Überläufer. Nigerias Islamistenyekte Boko Haram schwor dem IS die Treue. Und anders als al-Qaida hatte der IS ein eigenes Territorium, ein „Kalifat“.
Das Franchise-System al-Qaida
Doch Zawahiri0 trieb fast unbemerkt und im Schatten des IS den Wiederaufbau von alQaida voran. Und nun, da der IS territorial besiegt ist, könnten zahlreiche Terroristen wieder an „die Basis“zurückkehren, wie alQaida übersetzt heißt. Denn die 30 Jahre alte Terrororganisation ist wieder erstarkt.
Al-Qaida operiert heute mehr denn je als loses Netzwerk: das McDonald’s-System. In immer mehr Ländern gründen sich Franchise-Filialen, die unter der Marke al-Qaida operierten. Zuletzt, 2017, wurde eine neue Zelle in Kaschmir geschaffen.
Und wie ein Weltkonzern ist al-Qaida auf seinen Propagandakanälen um ein jugendliches Auftreten bemüht. Ein Teil der Kampagne kreist dabei um Hamza bin Laden, einen Sohn des 2011 getöteten Terrorpaten, der als kommender Mann bei al- Qaida gilt. Der Analyse des Council on Foreign Relations zufolge traf Zawahiri weitere strategische Entscheidungen: Erstens verzichtete al-Qaida unter seiner Führung lange Zeit auf spektakuläre Angriffe – mit Ausnahme der Anschläge auf „Charlie Hebdo“in Paris (2015) und auf die St. Petersburger Metro (2017). Schon gar nicht sollten muslimische Zivilsten ins Visier geraten. Dahinter steckte das Kalkül, just al-Qaida, also die Verantwortlichen für den größten Massenmord des 21.Jahrhunderts, als die moderate, zahmere Alternative zu den IS-Terroristen zu inszenieren. Al-Qaida gab sich also anpassungsfähig und je nach Region als „Wolf im Schafspelz“, wie der Extremismusforscher Charles Lister einmal konstatierte.
Gewinner des Arabischen Frühlings
Alles wurde dem Wiederaufbau der vom Krieg gegen den Terror geschundenen Organisation untergeordnet. Und 2011 wurden auch die Bedingungen günstig. Experte Hofmann nennt al-Qaida in seiner Analyse den „großen Gewinner“des Arabischen Frühlings. Wie ein Krebsgeschwür breiteten sich die Islamisten des IS aber auch von al-Qaida überall dort aus, wo die Staatsgewalt verschwand. In Libyen, in Syrien, im Armenhaus der arabischen Halbinsel: dem Jemen. Um den halben Globus reicht das Netzwerk. Es gibt Schätzungen, wonach von Westafrika bis nach Malaysia insgesamt 40.000 Gotteskrieger den al-Qaida-Filialen angehören, die meisten davon in Syrien (10.000–20.000) und Somalia (7000–9000).
„Bemerkenswert widerstandsfähig“
Die dünnen Fäden dürften bei al-Qaida der arabischen Halbinsel (AQAP) zusammenlaufen. Zumindest gilt AQAP als gefährlichster Zweig des Terrornetzwerks, der im Jemen ganze Landstriche kontrolliert und auch die Fähigkeit zu Angriffen auf die zivile Luftfahrt entwickelt haben soll, wie die „New York Times“einmal berichtet haben.
Bei den Vereinten Nationen macht man sich keine Illusionen: Al-Qaida, heißt es in einem aktuellen Bericht, sei im Jemen und in Somalia die „dominante Bedrohung“und in Westafrika und Südasien mindestens so gefährlich wie der IS. Ganz allgemein habe sich die Organisation als „bemerkenswert widerstandsfähig“erwiesen.