Die Presse

Warum al-Qaida den IS überleben dürfte

Analyse. Die Erben von Osama bin Laden sind fast unbemerkt und im Schatten des IS erstarkt. Ihr Netzwerk reicht um den halben Globus.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Ein Standbild zeigt die historisch­e Altstadt von Jerusalem. Die goldene Kuppel des Felsendoms ragt hervor. Eine arabische Stimme aus dem Off ist zu hören, sie ruft zum Jihad auf und wettert gegen die USA, die „modernen Kreuzzügle­r“und „ersten Feinde der Muslime“. Die vierminüti­ge Botschaft spricht Ayman al-Zawahiri, der weißbärtig­e Anführer der Terrororga­nisation al-Qaida. Anlass ist die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem. Schon Zawahiris 2011 getöteter Vorgänger, Osama bin Laden, hat mit der Palästinen­serfrage junge Gotteskrie­ger für al-Qaida angeworben.

Botschafte­n Zawahiris sind rar. Der 66-jährige ausgebilde­te Chirurg brach sein öffentlich­es Schweigen zuletzt nur ein einziges Mal, als in seiner Heimat Ägypten die Wiederwahl des ihm verhassten Präsidente­n Abdel Fatah al-Sisi anstand. Aber sonst: Es war ruhig um al-Qaida. Jahrelang saugte die neue Jihad-Konkurrenz, die Terrormili­z Islamische­r Staat (IS), die Aufmerksam­keit und Ängste der Weltöffent­lichkeit auf. Es klingt zynisch, aber: Terroriste­n, die Aufmerksam- keit wollten, mordeten fortan unter dem schwarzen IS-Banner. Es gab Überläufer. Nigerias Islamisten­yekte Boko Haram schwor dem IS die Treue. Und anders als al-Qaida hatte der IS ein eigenes Territoriu­m, ein „Kalifat“.

Das Franchise-System al-Qaida

Doch Zawahiri0 trieb fast unbemerkt und im Schatten des IS den Wiederaufb­au von alQaida voran. Und nun, da der IS territoria­l besiegt ist, könnten zahlreiche Terroriste­n wieder an „die Basis“zurückkehr­en, wie alQaida übersetzt heißt. Denn die 30 Jahre alte Terrororga­nisation ist wieder erstarkt.

Al-Qaida operiert heute mehr denn je als loses Netzwerk: das McDonald’s-System. In immer mehr Ländern gründen sich Franchise-Filialen, die unter der Marke al-Qaida operierten. Zuletzt, 2017, wurde eine neue Zelle in Kaschmir geschaffen.

Und wie ein Weltkonzer­n ist al-Qaida auf seinen Propaganda­kanälen um ein jugendlich­es Auftreten bemüht. Ein Teil der Kampagne kreist dabei um Hamza bin Laden, einen Sohn des 2011 getöteten Terrorpate­n, der als kommender Mann bei al- Qaida gilt. Der Analyse des Council on Foreign Relations zufolge traf Zawahiri weitere strategisc­he Entscheidu­ngen: Erstens verzichtet­e al-Qaida unter seiner Führung lange Zeit auf spektakulä­re Angriffe – mit Ausnahme der Anschläge auf „Charlie Hebdo“in Paris (2015) und auf die St. Petersburg­er Metro (2017). Schon gar nicht sollten muslimisch­e Zivilsten ins Visier geraten. Dahinter steckte das Kalkül, just al-Qaida, also die Verantwort­lichen für den größten Massenmord des 21.Jahrhunder­ts, als die moderate, zahmere Alternativ­e zu den IS-Terroriste­n zu inszeniere­n. Al-Qaida gab sich also anpassungs­fähig und je nach Region als „Wolf im Schafspelz“, wie der Extremismu­sforscher Charles Lister einmal konstatier­te.

Gewinner des Arabischen Frühlings

Alles wurde dem Wiederaufb­au der vom Krieg gegen den Terror geschunden­en Organisati­on untergeord­net. Und 2011 wurden auch die Bedingunge­n günstig. Experte Hofmann nennt al-Qaida in seiner Analyse den „großen Gewinner“des Arabischen Frühlings. Wie ein Krebsgesch­wür breiteten sich die Islamisten des IS aber auch von al-Qaida überall dort aus, wo die Staatsgewa­lt verschwand. In Libyen, in Syrien, im Armenhaus der arabischen Halbinsel: dem Jemen. Um den halben Globus reicht das Netzwerk. Es gibt Schätzunge­n, wonach von Westafrika bis nach Malaysia insgesamt 40.000 Gotteskrie­ger den al-Qaida-Filialen angehören, die meisten davon in Syrien (10.000–20.000) und Somalia (7000–9000).

„Bemerkensw­ert widerstand­sfähig“

Die dünnen Fäden dürften bei al-Qaida der arabischen Halbinsel (AQAP) zusammenla­ufen. Zumindest gilt AQAP als gefährlich­ster Zweig des Terrornetz­werks, der im Jemen ganze Landstrich­e kontrollie­rt und auch die Fähigkeit zu Angriffen auf die zivile Luftfahrt entwickelt haben soll, wie die „New York Times“einmal berichtet haben.

Bei den Vereinten Nationen macht man sich keine Illusionen: Al-Qaida, heißt es in einem aktuellen Bericht, sei im Jemen und in Somalia die „dominante Bedrohung“und in Westafrika und Südasien mindestens so gefährlich wie der IS. Ganz allgemein habe sich die Organisati­on als „bemerkensw­ert widerstand­sfähig“erwiesen.

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