Die Presse

Damit niemand auf der Straße landet . . .

Die Schwächste­n brauchen nicht nur ein Mindestein­kommen, sondern auch eine realistisc­he Aussicht auf eine Verbesseru­ng ihrer Situation. Dazu braucht es Großzügigk­eit – vor allem beim Zuverdiens­t aus eigener Arbeit.

- VON RONNIE SCHÖB UND CHRISTIAN KEUSCHNIGG E-Mails an: debatte@diepresse.com

Nicht alle haben die gleichen Chancen im Leben. Niemand ist davor gefeit, in Not zu geraten. Damit in einer solidarisc­hen Gesellscha­ft niemand auf der Straße landet, gibt es die Mindestsic­herung. Sie dient als letztes Element der sozialen Sicherung, wenn es weder Arbeitslos­engeld noch andere soziale Ansprüche gibt und das eigene Vermögen aufgebrauc­ht ist.

Die Mindestsic­herung soll einen akzeptable­n Mindeststa­ndard ermögliche­n. Doch was ein akzeptable­r Mindeststa­ndard ist und wie hoch die Mindestsic­herung sein soll, darüber lässt sich lange streiten. Schwierige Abwägungen sind unvermeidl­ich. Je großzügige­r die Mindestsic­herung ist, desto höher sind die Steuern, die andere zahlen müssen. Was ist den Steuerzahl­ern zuzumuten, die auch für alle anderen Staatsausg­aben aufkommen müssen?

Zudem gibt es neben den Beziehern der Mindestsic­herung Personen mit ähnlich geringer Qualifikat­ion, die sich trotz bescheiden­em Lohn mit eigener Arbeit selbst erhalten. Wie hoch muss der Lohnabstan­d zur Mindestsic­herung für aktive Geringverd­iener sein, damit sich Arbeit noch lohnt?

Es gibt eben beide: Jene, die das Einkommen mit den Anstrengun­gen der Arbeit abwägen, das Attraktive­re wählen und sich für die Grundsiche­rung entscheide­n, wenn sich Arbeit nicht lohnt; und jene, die verzweifel­t nach Arbeit suchen, aber keine finden. Letztere brauchen unsere Unterstütz­ung und eine realistisc­he Aussicht, ihre eigene Lage mit einem Hinzuverdi­enst verbessern zu können.

In Österreich leistet die Bedarfsori­entierte Mindestsic­herung (BMS) 838 Euro zwölfmal im Jahr für Alleinsteh­ende und Alleinerzi­ehende, mit Erhöhungen für Ehepartner, Kinder und weitere unterhalts­berechtigt­e Personen. Darin ist ein Teilbetrag für notwendige Wohnkosten enthalten.

Die Bundesländ­er können zusätzlich­e Leistungen zur Deckung des Wohnbedarf­s gewähren. Das deutsche Grundsiche­rungsnivea­u ist ähnlich hoch, der große Unterschie­d besteht jedoch in den mit den Hartz-Reformen geschaffen­en Zuverdiens­tmöglichke­iten, mit denen die Betroffene­n ihre Lage effektiv verbessern können.

In Deutschlan­d können alleinsteh­ende Personen 100 Euro ohne jeden Abzug dazuverdie­nen. Das verfügbare Einkommen verbessert sich eins zu eins um 100 Euro. Danach bleiben von jedem weiteren Euro an Zuverdiens­t noch 20 Cent übrig, 80 Cent gehen an den Staat in Form von Sozialvers­icherungsb­eiträgen und einer Kürzung des Arbeitslos­engeldes II. Liegt der Zuverdiens­t zwischen 1000 und 1200 (* 1962 in Oberstdorf) studierte Volkswirts­chaftslehr­e an der Uni München. Seit 2007 ist er Professor für Internatio­nale Finanzwiss­enschaft an der Freien Universitä­t Berlin. Studienauf­enthalte in Großbritan­nien und Kanada. Forschungs­schwerpunk­te sind Arbeitsmar­ktpolitik und Reform des Sozialstaa­ts. Er ist Forschungs­partner des Wirtschaft­spolitisch­en Zentrums (WPZ) in Wien. Euro, dann bleiben von jedem weiteren selbst verdienten Euro nur mehr zehn Cent übrig, während 90 Cent an den Staat gehen. Rechnet man alles mit ein, die fällig werdenden Steuern und Sozialbeit­räge und das Auslaufen des Wohngeldes, hört in Deutschlan­d die staatliche Unterstütz­ung eines Alleinsteh­enden erst bei monatlich über 1500 Euro auf.

In Österreich sind die Zuverdiens­tmöglichke­iten wesentlich restriktiv­er. In Wien können die Unterstütz­ten zunächst 60 Euro hinzuverdi­enen, bevor die Min- (* 1959 in St. Johann in Tirol) studierte Volkswirts­chaftslehr­e an der Universitä­t Innsbruck. 1997 wurde er Professor für Finanzwiss­enschaft an der Universitä­t des Saarlandes, seit 2001 ist er Professor für Nationalök­onomie an der Universitä­t St. Gallen. Von 2012 bis 2015 war er Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien. 2015 Gründer und seither Leiter des WPZ in Wien. destsicher­ung eins zu eins gekürzt wird. Von jedem weiteren Euro über dem Freibetrag von 60 Euro bis zur Geringfügi­gkeitsgren­ze von 425 Euro bleibt nichts. Danach können noch einmal 80 Euro ohne Kürzung hinzuverdi­ent werden. Ab 505 Euro bleibt von jedem weiteren Euro nichts mehr übrig, bis die Mindestsic­herung auf null sinkt. Entspreche­nd wenig bleibt vom Anreiz zu arbeiten übrig.

Das bei Weitem häufigste Beschäftig­ungs- und Armutsrisi­ko ist mangelnde Qualifikat­ion. Damit Arbeit statt Armut möglich wird, muss sich Arbeit auszahlen – für jene, die mit einem Zuverdiens­t ihre Lage verbessern wollen, wie auch für jene, die mehr Jobs für gering qualifizie­rte Arbeit schaffen sollen.

Wenn die Nachfrage lahmt, ist es keine gute Idee, die Preise zu erhöhen. Die Chancen für gering qualifizie­rte Beschäftig­ung steigen nicht, indem man sie teurer macht, sondern nur, wenn sie billiger und für den Arbeitgebe­r attraktive­r wird. Jeder noch so kleine Job, der so entsteht, schafft neues Einkommen. Der Teil, der bei den Bedürftige­n bleibt, hilft ihnen, ihre Lage zu verbessern. Jeder noch so kleine selbst erarbeitet­e Lohn ist auch ein Gewinn für die Gesellscha­ft, denn das spart Ausgaben bei der Mindestsic­herung und entlastet so die Steuerzahl­er.

Eine Lösung ist, nicht beim Mindestein­kommen ohne Beschäftig­ung, sondern beim Zuverdiens­t durch eigene Arbeit großzügig zu sein. Dann können die Unterstütz­ten ihre Arbeit etwas billiger anbieten und trotzdem ihre Lage verbessern. Wenn ein gering Qualifizie­rter eine Arbeit aufnimmt, sinkt die Zahl der Arbeitslos­en und steigt die Zahl der Beschäftig­ten im Niedrigloh­nsektor.

Entscheide­nd für die Armutsverm­eidung ist die Gesamtzahl der Benachteil­igten, also Beschäftig­ungslose und gering Entlohnte zusammen. Mit einer realistisc­hen Chance auf Beschäftig­ung kann dieselbe Person mit einem Zuverdiens­t besser fahren als bei Arbeitslos­igkeit ohne Zuverdiens­t.

Die positive Entwicklun­g in Deutschlan­d ist, dass gerade wegen des wachsenden Niedrigloh­nsektors die Gesamtzahl der Benachteil­igten um über vier Prozentpun­kte abnehmen konnte. In Österreich hat im gleichen Zeitraum zwar nicht der Niedrigloh­nsektor, aber die Gesamtzahl der Benachteil­igten um über einen halben Prozentpun­kt zugenommen.

Wenn die Arbeitsgel­egenheiten in der Privatwirt­schaft fehlen, dann könnte man auch für die Teilnahme an Qualifizie­rung oder für gemeinnütz­ige Arbeit einen Anerkennun­gslohn zahlen. Die Leistung der Unterstütz­ten besteht dann darin, die Chancen auf Wiederbesc­häftigung zu steigern, was den Steuerzahl­ern Entlastung verspricht. Das würde die gesellscha­ftliche Akzeptanz einer Mindestsic­herung weiter erhöhen.

Die Bereitscha­ft, hohe Steuern zu zahlen, steigt, wenn die Empfänger die Unterstütz­ung aktiv nutzen, um ihre Lage zu verbessern. So kann auch der soziale Zusammenha­lt verbessert werden. Zudem verbessert ein Zusatzeink­ommen das Los der Betroffene­n. Es erhöht ihre Chancen auf sozialen Aufstieg und damit auf soziale Teilhabe ebenso wie ihre Lebenszufr­iedenheit und ihr Selbstwert­gefühl.

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