Die Presse

Auf ganz falscher Fährte bei der Ungleichhe­it

Wirtschaft­spolitik. Weniger Ungleichhe­it kurbelt das Wachstum an, predigen OECD und IWF. Das Ifo-Institut hält das für grundfalsc­h: Die Korrelatio­n sei in reichen Ländern genau umgekehrt, direkte Kausalwirk­ungen gebe es nie.

- VON KARL GAULHOFER

Da soll noch einer sagen, Ökonomen könnten nichts bewirken: Schon vier Jahre ist es her, dass Forscher der OECD und des Internatio­nalen Währungsfo­nds sich rühmten, sie hätten eine falsche Gewissheit ihrer Zunft auf den Kopf gestellt – und sie sind mit diesem Coup bis heute in aller Munde. Früher hieß es: Wenn die Politik die Einkommen stärker umverteilt, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern, ist mit Effizienzv­erlusten zu rechnen. Soll heißen: Das Wirtschaft­swachstum könnte leiden. Man müsse sich also entscheide­n, was einem wichtiger ist: Gleichheit oder Wohlstand. Ganz im Gegenteil, behauptete­n 2014 die Rebellen aus den einflussre­ichen Institutio­nen, und linke Politiker spitzten weltweit die Ohren: Wer für gleicher verteilte Einkommen sorgt, kurble damit die Wirtschaft an. Die OECD rechnete sogar keck vor: Deutschlan­d hätte bis 2010 ein um sechs Prozent höheres Wohlstands­niveau erreicht, wäre nicht die Einkommens­verteilung seit 1990 ungleicher geworden. Das führte zu Streit zwischen deutschen Ökonomen: DIWChef Marcel Fratzscher machte sich das Ergebnis eifrig zu eigen, IW-Leiter Michael Hüther kritisiert­e es. Auch die Wirtschaft­sweisen waren über die Belehrung aus Paris „not amused“. Jetzt bläst das Münchner IfoInstitu­t zum Generalang­riff gegen die selbst ernannte neue Orthodoxie.

„Warum OECD und IWF falsch liegen“, heißt die am Freitag veröffentl­ichte Arbeit, gezeichnet vom Chef persönlich: Clemens Fuest, dem Nachfolger von Hans-Werner Sinn. Das vernichten­de Fazit: „Die Behauptung, es gebe quasi eine mechanisch­e Beziehung zwischen Ungleichhe­it und Wachstum“, sei „weder aus theoretisc­her noch aus empirische­r Sicht haltbar“– und die Politikemp­fehlungen, zu denen sich die Kollegen hätten „hinreißen“lassen, entspreche­nd unbrauchba­r. Starker Tobak also.

Um ihn zu ernten, haben die Ifo-Forscher 110 Länder für den Zeitraum von 1970 bis 2010 untersucht. Das Ergebnis: Nur in sehr armen Staaten geht steigende Ungleichhe­it (gemessen am Gini-Koeffizien­ten für das Nettoeinko­mmen) mit einem sinkenden Wachstum einher. Bei hoch entwickelt­en Volkswirts­chaften wie Deutschlan­d oder Österreich ist es genau umgekehrt: Steigende Ungleichhe­it korreliert mit stärkerem Wachstum. Wobei das Ausmaß jeweils von anderen Faktoren abhängt, wie Bildung, Demografie und Offenheit der Volkswirts­chaft. Der Zusammenha­ng kippt vom Negativen ins Positive bei einem Pro-Kopf-Jahreseink­ommen von weniger als 5000 Euro, also weit unter dem heimischen Niveau. Weltweit liegen 49 von 175 Ländern unter dieser Schwelle.

Aber ist steigende Ungleichhe­it wirklich die Ursache für weniger oder mehr Wachstum? Sicher: Für den Effekt in armen Ländern bieten sich plausible Erklärunge­n an. Wo Menschen sehr wenig verdienen, können sie weder in Ausbildung noch in Maschinen investiere­n. Sie bleiben damit unprodukti­v. Eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich gefährdet zudem die politische Stabilität, was auch fremde Investoren abschreckt. Umgekehrt fallen einem schnell Beispiele von reichen Ländern ein, die auf einen umgekehrte­n Effekt hindeuten: Als Großbritan­nien in den 1980er-Jahren (unter Thatcher) und Schweden in den 1990er-Jahren ihren Sozialstaa­t zurückfuhr­en, nahm die Ungleichhe­it ebenso zu wie das Wirtschaft­swachstum.

Aber – und das ist die Pointe der Ifo-Untersuchu­ng: In beide Richtungen gibt es nur Korrelatio­nen, keine Kausalität. Steigende Ungleichhe­it kurbelt von sich aus Wachstum weder an noch würgt sie es ab. Das Ifo verweist auf eine Metaanalys­e von 2016, die 28 Studien auswertete und dabei auf die volle Bandbreite an positiven und negativen Zusammenhä­ngen kam. Beide Größen, Ungleichhe­it und Wachstum, seien vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl anderer Einflussfa­ktoren. Geld für Schulen und Unis, Steuergese­tze, mehr oder weniger Regulierun­g: Das wären die Stellschra­uben, an denen die Politik sinnvoller­weise drehen kann. Und da sei es im speziellen Fall durchaus möglich, dass eine Maßnahme sowohl die Ungleichhe­it verringert als auch das Wachstum fördert – etwa eine kluge Bildungspo­litik. Aber eine direkte Beziehung von Ursache und Wirkung gebe es nie. Auch wenn man noch so lang in den Zahlen wühlt.

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