Die Presse

17. Juni 1953: Lehren einer gescheiter­ten Revolution

1953 zeigte: Politische Systeme bekommen bei Mangelwirt­schaft und unterlasse­nen Reformen rasch Legitimati­onsproblem­e.

- VON MICHAEL GEHLER

Es ist ein Schlüsseld­atum der deutschen Nachkriegs­geschichte: Mehr als eine halbe Million Menschen waren an diesem 17. Juni 1953 auf der Straße, streikten oder demonstrie­rten gegen die ostdeutsch­e Diktatur. Sowjetisch­e Panzer walzten die Volkserheb­ung rasch nieder und retteten das SED-Regime. Der 17. Juni wurde dennoch zum Trauma der DDR-Führung, der die Angst vor der eigenen Bevölkerun­g im Nacken saß – trotz Mauer, Stacheldra­ht und Stasi.

Eine erste Lehre des Aufstands lautet, dass zu spät eingeleite­te Reformen zur Explosion des Unmuts führen können. Zuvor gab es bereits Massenprot­este im tschechisc­hen Pilsen am 1. Juni. Es war das erste Aufbegehre­n gegen ein sozialisti­sches Terrorsyst­em hinter dem Eisernen Vorhang.

Zweite Lehre: Der Tod von Sowjetdikt­ator Stalin am 5. März hatte einen Umbruch nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in Mitteleuro­pa angedeutet. Die Forschung sieht das Aufbegehre­n vom 17. Juni im Rückblick der Umbrüche von 1989, woraus eine dritte Lehre folgt: Eine Revolution im „Ostblock“konnte nur bei gleichzeit­igen länderüber­greifenden Aufständen Erfolgsaus­sicht haben.

Die Bildung revolution­ärer Organisati­onsformen von längerem Bestand war aufgrund des rigiden staatliche­n Repression­sapparats mit sowjetisch­er Unterstütz­ung allein in der DDR nicht möglich.

Der 17. Juni war – wenn auch gescheiter­t – dennoch beispielge­bend und langfristi­g wirksam, obwohl er keine zentrale Führungsfi­gur hervorbrac­hte. Das hatten die Aufstände in Ungarn (1956) mit Imre Nagy, die Reformen in der Tschechosl­owakei (1968) mit Alexander Dubcekˇ oder die Streiks in Polen (1980er-Jahre) mit Lech Wałesa.˛ Das allein war auch noch keine Erfolgsgar­antie.

Eine vierte Lehre besagt, dass eine erfolgreic­he Revolution nicht nur Zustimmung des internatio­nalen Umfelds, sondern auch dessen Unterstütz­ung braucht. Das militärisc­he Eingreifen der Sowjetunio­n war nur ein Grund für das Scheitern. Der 17. Juni misslang auch, weil der Westen nicht aktiv werden wollte. Aus Sicht der USA sollte der „Topf auf kleiner Flamme kochen, ohne es zum Überkochen kommen zu lassen“. Das Geschehen blieb für sie nachrangig, wurde allerdings instrument­alisiert – auch, um die Westintegr­ation der Bundesrepu­blik abzusicher­n.

Die Tragik des Aufstands bestand darin, dass sein Scheitern allen Gegnern eines Kompromiss­es zwischen Ost und West sowie all jenen nutzte, die am Status quo festhielte­n. Die Ostdeutsch­en erwarteten vom Westen mehr als nur zur Schau getragene menschlich­e Anteilnahm­e und propagandi­stische Kundgebung­en.

Lernen kann man vom 17. Juni ferner, dass revolution­äre

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