Kompromiss Elektrifizierung
Vor 120 Jahren wurden die ersten Strecken der Wiener Stadtbahn eröffnet, drei Jahre später wurde ihr Bau abgeschlossen. In weniger als zehn Jahren entstand ein metropolitanes Schnellbahnnetz mit 38 Kilometer Länge – eine einzigartige Planungsund Bauleistung, wie sie heute vielleicht in China, aber vermutlich nicht in einer europäischen Hauptstadt möglich wäre. Sandor´ Bek´esis´ Sicht der Dinge („Krempel mit Mehrwert“, „Spectrum“vom 28. April) soll hier nicht unwidersprochen bleiben.
Wie erfolgreich und zukunftsorientiert die Wiener Stadtbahn war, kann man daran ermessen, dass alle Linien mit geringfügigen Modifikationen noch in Betrieb sind und unverzichtbare Verkehrsachsen bilden. Der schönste Erfolg ist vielleicht jener der Vorortelinie, die auf Druck der Öffentlichkeit gegen den hinhaltenden Widerstand der ÖBB und der Stadt Wien schließlich 1987 als Schnellbahnlinie S45 wiedereröffnet wurde. Stetigen Verkehrszuwächsen wird mittlerweile mit einem Zehn-MinutenTakt entsprochen. Die Vorortelinie verdeutlicht die topografische Besonderheit von Wien gegenüber Berlin, London oder Paris. Wien ist hügelig, die Vorortelinie musste wie eine Gebirgsbahn trassiert werden. Gleichzeitig verschönert die anspruchsvolle Topografie das Fahrerlebnis. Eine Fahrt mit der Vorortelinie sollte eigentlich in jedem Wienführer als landschaftliches Highlight empfohlen werden.
Die Wiental- und Donaukanallinie der Stadtbahn verbinden als U4 wie zu Otto Wagners Zeit den Westen und den Norden Wiens über die Innenstadt. Den Sinn und die Zweckmäßigkeit dieser Linie würde heute wohl niemand in Frage stellen. Dasselbe gilt für die Gürtellinie, die mittlerweile als U6 nach Süden und Norden verlängert wurde. Ihre dicht gedrängten Fahrgäste würden sich auf dem ursprünglichen Stadtbahnabschnitt auf dem Gürtel manchmal wünschen, dass sie weniger stark frequentiert wäre, aber der Bedarf ist nun einmal so groß. Nicht zu vergessen ist, dass die heutige Stammstrecke der Wiener S-Bahn ins Liniennetz der Stadtbahn einbezogen war. Die teilweise Überbauung des Heiligenstädter Astes der Gürtellinie nach dessen Einstellung 1996 war ein verkehrsstrategischer Fehler, weil er einen Ausbau über Heiligenstadt hinaus behindert.
Die neuesten Wiener U-Bahn-Linien sperren sich gegen eine Verlängerung und ringeln sich wie die U2 in der Seestadt regelrecht ein, während die Stadtbahn von Anfang nach außen wies und die Siedlungsachsen im Umland einbezog. Wenn man die Stadtbahn von 1898/1901 mit dem heutigen Zustand vergleicht, kann man kritisieren, dass ein einheitliches System technisch zersplittert wurde. Die Vorortelinie ist als einzige eine vollwertige Eisenbahnlinie geblieben, während sich die U6 noch als Relikt der straßenbahnmäßigen Elektrifizierung von 1924/25 präsentiert, und die U4 als U-Bahn mit seitlichen Stromschienen und Hochbahnsteigen ausgeführt wurde. Diese technische Dreiteilung ist ein gewisses Hindernis für die weitere Netzentwicklung, ändert aber nichts an der Qualität und Zukunftstauglichkeit der ursprünglichen Stadtbahnlinien.
Die von Bek´esi´ zitierten zeitgenössischen Kritiker an den Stadtbahnstationen konnten nicht wissen, was den Wienerinnen und Wienern später in vielen neueren U-Bahn-Stationen zugemutet werden sollte. Endlose Verteilgeschoße und Stationen, deren Ausrichtung sich bereits nach wenigen Jahren als falsch herausstellte wie die Station Bahnhof Meidling (Philadelphiabrücke) der U6 zeugen nicht von Weitsicht. In dieser Station ist der Südausgang völlig überlastet, wodurch die permanent unter Volllast laufende einzige Rolltreppe im Wochenrhythmus ausfällt.
Die Hochbahnstationen verlangen gewiss die Überwindung einiger Stufen. Die sind aber so bequem ausgeführt, dass man sie selbst mit Gepäck leicht überwinden kann, sofern man nicht die längst eingebauten Aufzüge benützen will. Im Gegensatz zu den naturgemäß nach außen abgeschlossenen unterirdischen Bauwerken der U-Bahn wendet sich die Stadtbahn ihrer Umgebung zu und bildet mit ihr eine ästhetische Einheit. Die Stadtbahn ist funktional und schön zugleich. Die Mischung aus Hochbahn- und Galeriestrecken wird den Fahrgästen in dieser Form nirgendwo sonst geboten.
Dass die Stadtbahn von Anfang an veraltet gewesen sei, ist in der von Bek´esi´ behaupteten Form ebenfalls unhaltbar. Die Stadtbahn war ein zukunftsweisendes Verkehrssystem für den urbanen Großraum Wien, dessen Wachstum durch die verheerenden Folgen der beiden Weltkriege bis zum Fall des Eisernen Vorhangs gebremst wurde, seit 1989 aber wieder angezogen hat. Umso beeindruckender ist es, dass Verkehrsanlagen aus dem Ende des 19. Jahrhundert im dynamischen 21. Jahrhundert ihren Zweck erfüllen.
QEin zeitbedingter Kompromiss war die Elektrifizierung eines Teils der Stadtbahn durch die Gemeinde Wien als Straßenbahn. Die zweiachsigen Waggons der elektrischen Stadtbahn schaukelten von den 1920er- bis in die 1980er-Jahre mit maximal 40 Stundenkilometern über die ehemalige Bahntrasse und fuhren nicht schneller als die ursprünglichen Dampfzüge. Die lange Zeit ebenfalls mit Dampfloks betriebene Berliner Stadtbahn wurde Ende der 1920er-Jahre als moderne S-Bahn elektrifiziert. Zu einem solchen Schritt konnte sich das Rote Wien nicht durchringen. Die höheren Investitionskosten und der politische Gegensatz zur Bundesregierung und dem Land Niederösterreich sprachen dagegen.
Die Wiener Stadtbahn war also ganz und gar nicht anachronistisch, sondern barg große Chancen, an denen Wien unter Bürgermeister Lueger aber nicht mehr interessiert war. Es folgte eine längere Phase der Latenz respektive das Langzeitprovisorium der elektrischen Stadtbahn. Dank der Modernisierungen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts präsentieren sich die Stadtbahnlinien heute technisch modern. Die großartigen Bauten Otto Wagners werden längst nicht mehr in Frage gestellt. Diese Bilanz ist, vom Anfang und vom Ende her gedacht, positiv.
Georg Rigele, geboren 1960 in Wien, ist Historiker und Unternehmensarchivar. Jüngste Publikation: „Politische Aspekte des Stadtbahnbaues. Eine Rehabilitierung“in dem von Alfred Fogarassy herausgegebenen Band „Otto Wagner. Die Wiener Stadtbahn“(Hatje Cantz, Berlin).