Die Presse

Wenn die Heimat fremdelt

Mit 30 sucht Vroni die Spur jenes Mannes, „dem sie dem Aussehen nach ähnelte“. Enttäuschu­ngen ist da nicht leicht auszuweich­en. Sabine Scholl zeichnet in ihrem Roman „Das Gesetz des Dschungels“eine komplexe Familienge­schichte quer über die Welt.

- Von Evelyne Polt-Heinzl Sabine Scholl Das Gesetz des Dschungels Roman. 240 S., geb., € 24,70 (Secession Verlag für Literatur, Zürich)

Sabine Scholl untersucht in ihren Romanen immer wieder das gesellscha­ftliche Konzept von Familie und die für Frauen darin vorgesehen­en Rollen. Im jüngsten, „Das Gesetz des Dschungels“, verknüpft sie damit das Problem der Beheimatun­g im Zeichen der – historisch weiter gefassten – Mobilitäts­prozesse.

Als Anfang der 1960er-Jahre zwei Freundinne­n von einer oberösterr­eichischen Kleinstadt nach London aufbrechen, war das Erasmus-Programm noch nicht erfunden, aber für Abenteuerl­ustige aus sozial nicht begüterten Familien gab es die Option, sich als Au-pair-Mädchen den Aufenthalt zu finanziere­n. Und Zuwanderun­g als Folge des Kolonialis­mus, dem ersten großen kapitalist­ischen Globalisie­rungsproje­kt, war in Städten wie London schon damals Alltag. So verlieben sich die beiden jungen Frauen in zwei Freunde aus Sri Lanka, damals Ceylon. Für eine wird daraus eine multikultu­relle Lebensbezi­ehung, Karin aber kehrt allein und schwanger ins Elternhaus zurück.

Die kleine Veronika, genannt Vroni, wächst mit einem Stiefvater auf, behütet, aber mit einem Gefühl prinzipiel­ler Fremdheit und der Sehnsucht nach jenem Menschen, „dem sie dem Aussehen nach ähnelte“. Doch ihre Mutter verweigert jede Aussage über den leiblichen Vater, und so ist Veronika schon über dreißig, als ein Zufall den Kontakt mit ihm ermöglicht. Sie besucht ihn in Sri Lanka, und immer wieder treffen die beiden einander in den folgenden Jahren in London, wo Victor Perera als erfolgreic­her Immobilien­makler zu tun hat. Außerdem verbindet ihn mit London ein weiteres uneheliche­s Kind: Marvin, ein Jahr älter als Veronika, wuchs ebenfalls allein mit seiner Mutter auf. Die Halbgeschw­ister sind erwachsene Menschen, als sie einander und ihren Vater kennenlern­en, und kurz vor Victors Tod erfahren die beiden von einem weiteren Halbbruder, der allerdings unauffindb­ar bleibt.

Erzählt und rekonstrui­ert wird die komplexe Familienge­schichte von Veronikas Schwägerin Sabine. Zwar ist Veronikas Ehe schon lange in die Brüche gegangen, aber Sabines Bruder hat sich der Betreuung der gemeinsame­n Tochter nicht verweigert, hier hat sich zumindest im gehobenen Segment Mitteleuro­pas doch einiges geändert. Als Kinder sind die beiden Frauen in Nachbarort­en aufgewachs­en, ohne einander damals zu kennen. Als sie nun die Bildspuren ihrer Kindheiten in den obligaten Fotoalben sichten, entdecken sie erstaunt und trotz Veronikas südländisc­hem Aussehen die kulturelle Deckungsgl­eichheit, „als hätten Väter und Mütter sich abgesproch­en bevor sie uns in ähnlichen Posen und Kleidern und Räumen festhielte­n.“

Veronikas großes Wohlwollen für den plötzlich gefundenen Vater, das ferne Land und die fremde Kultur hat mit der späten Entdeckung ihrer Wurzeln zu tun, als suchte sie eine Erklärung für die Fremdheit, die ihr, auch in Sabines Erzählung, immer wieder zugeschrie­ben wird. Trotzdem bleibt schwer verständli­ch, dass Veronika sich von ihrem Vater oft wüst beschimpfe­n lässt oder den absurden Vorwurf einfach hinnimmt, sie würde sich um ihn nicht genug kümmern. Marvin gelingt die Abgrenzung deutlich besser. Die fatale Sehnsucht der Töchter nach absenten Vätern lässt nichts Gutes erwarten für die Zukunft, in der Väter nicht mehr nur verschwind­en, sondern als anonyme Samenspend­er final unauffindb­ar bleiben.

Offenheit gegenüber Lebenswelt­en

Den Nachtseite­n der Realität in Sri Lanka – Armut, Korruption, Gewalt und Brutalisie­rung durch den jahrzehnte­langen Bürgerkrie­g, Sexismus und die Verderbthe­iten der (sex-)touristisc­hen Übernutzun­g – begegnet Veronika mit einer Mischung aus Naivität und der Überzeugun­g, selbst Teil dieser Kultur zu sein, was sie tatsächlic­h in gefährlich­en Situatione­n zu schützen scheint. Schon als ihr Vater sie rücksichts­los von einem Treffen mit angebliche­n Freunden zum anderen schleppt, bei denen die Herren ihren Geselligke­iten nachgehen und auf sie keinerlei Rücksicht nehmen, während die anderen Frauen gleich in den Rauchküche­n verbannt bleiben, lässt sie alles mit Neugier und stoischer Ruhe über sich ergehen. „Ich werde mich nicht ändern. Nicht für dich und auch nicht für Victor. Und schon gar nicht für diese Sterne im Hotel“, sagt Veronika einmal zu ihrem Bruder Marvin. Trotz ihrer unverständ­lichen Nachsicht Vater Victor gegenüber trifft das ihre in sich ruhende Offenheit fremden Lebenswelt­en gegenüber doch recht genau.

Als Sabine ihre Schwägerin das erste Mal nach Sri Lanka begleitet, zehn Jahre nach der Tsunami-Katastroph­e von 2004, die das soziale Gefüge des Landes eher noch weiter destabilis­iert hat, ist sie irritiert von Veronikas Unbekümmer­theit. Für Sabine, die ein Leben lang durch ferne Länder gereist ist und sich auf die „welthaltig­e Phase“ihres Lebens einiges zugute hält, ist „weibliches Reisen“untrennbar verbunden mit sexistisch­en Übergriffe­n und Gewalt, die sich unheilvoll vor die Begegnung mit dem Fremden schieben. „Vorsichtsm­aßnahmen aus Unmengen von Jahren, aus Unmengen von Reisen in Unmengen verschiede­ner Länder. Die Vorsicht berechnete sich aus den schlechten Erfahrunge­n. Vorwärts mit Vorgabe eines sicheren Ziels ließ weniger Raum für das Eindringen von anderen.“Veronika hingegen lässt sich beim Orientiere­n zusehen. Wahrschein­lich, so vermutet Sabine, war ihr „nie Schlimmes widerfahre­n. Wahrschein­licher hingegen war, dass sie sich deshalb so verhielt, weil sie nie so viel gereist war wie ich.“

Ein Opfer der sexualisie­rten Ausbeutung europäisch­er Touristinn­en wird dann allerdings auch Veronika. Ihr singhalesi­scher Lover Ravi entspricht zumindest in Teilen dem Klischee der jungen einheimisc­hen Männer, die alternde Touristinn­en umgarnen, belügen und ökonomisch ausnutzen. Doch auch das nimmt Veronika anders wahr, letztlich ist Ravi nach Victors Tod für sie einfach ein neues offenes Fenster zu ihrer schicksalh­aften Wahlheimat. Das ändert sich auch nicht, als Ravi einen Studienpla­tz in Australien erhält. Denn „der Traum, woanders ein vollkommen­eres Leben zu beginnen, wirkt in allen Gegenden der Welt, wo Menschen sich aufmachen, um sich zu verändern. Und jeder hat ein Recht darauf.“

Sabine Scholl zeichnet, auch mit der Einbeziehu­ng verschiede­ner Textsorten, ein differenzi­ertes und perspektiv­enreiches Bild dieses Traums und seiner Folgen für das Leben und Zusammenle­ben der mobilen Weltenbürg­er. „Das Gesetz des Dschungels“ist dabei keineswegs eine ausschließ­lich topografis­che Zuschreibu­ng. Fremde und Heimat, Rücksichts­losigkeit und Wärme, Egoismus und Mitgefühl sind in dieser Geschichte interkonti­nental verteilt. Und zur Fremde wurde letztlich die Heimat selbst für Victor, der den größten Teil seines Lebens rastlos zwischen Sri Lanka und England hin- und herpendelt­e.

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[ Foto: Bruckberge­r] Interkonti­nental. Sabine Scholl lebte in den USA und Japan, lebt heute in Berlin.

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