Wenn die Heimat fremdelt
Mit 30 sucht Vroni die Spur jenes Mannes, „dem sie dem Aussehen nach ähnelte“. Enttäuschungen ist da nicht leicht auszuweichen. Sabine Scholl zeichnet in ihrem Roman „Das Gesetz des Dschungels“eine komplexe Familiengeschichte quer über die Welt.
Sabine Scholl untersucht in ihren Romanen immer wieder das gesellschaftliche Konzept von Familie und die für Frauen darin vorgesehenen Rollen. Im jüngsten, „Das Gesetz des Dschungels“, verknüpft sie damit das Problem der Beheimatung im Zeichen der – historisch weiter gefassten – Mobilitätsprozesse.
Als Anfang der 1960er-Jahre zwei Freundinnen von einer oberösterreichischen Kleinstadt nach London aufbrechen, war das Erasmus-Programm noch nicht erfunden, aber für Abenteuerlustige aus sozial nicht begüterten Familien gab es die Option, sich als Au-pair-Mädchen den Aufenthalt zu finanzieren. Und Zuwanderung als Folge des Kolonialismus, dem ersten großen kapitalistischen Globalisierungsprojekt, war in Städten wie London schon damals Alltag. So verlieben sich die beiden jungen Frauen in zwei Freunde aus Sri Lanka, damals Ceylon. Für eine wird daraus eine multikulturelle Lebensbeziehung, Karin aber kehrt allein und schwanger ins Elternhaus zurück.
Die kleine Veronika, genannt Vroni, wächst mit einem Stiefvater auf, behütet, aber mit einem Gefühl prinzipieller Fremdheit und der Sehnsucht nach jenem Menschen, „dem sie dem Aussehen nach ähnelte“. Doch ihre Mutter verweigert jede Aussage über den leiblichen Vater, und so ist Veronika schon über dreißig, als ein Zufall den Kontakt mit ihm ermöglicht. Sie besucht ihn in Sri Lanka, und immer wieder treffen die beiden einander in den folgenden Jahren in London, wo Victor Perera als erfolgreicher Immobilienmakler zu tun hat. Außerdem verbindet ihn mit London ein weiteres uneheliches Kind: Marvin, ein Jahr älter als Veronika, wuchs ebenfalls allein mit seiner Mutter auf. Die Halbgeschwister sind erwachsene Menschen, als sie einander und ihren Vater kennenlernen, und kurz vor Victors Tod erfahren die beiden von einem weiteren Halbbruder, der allerdings unauffindbar bleibt.
Erzählt und rekonstruiert wird die komplexe Familiengeschichte von Veronikas Schwägerin Sabine. Zwar ist Veronikas Ehe schon lange in die Brüche gegangen, aber Sabines Bruder hat sich der Betreuung der gemeinsamen Tochter nicht verweigert, hier hat sich zumindest im gehobenen Segment Mitteleuropas doch einiges geändert. Als Kinder sind die beiden Frauen in Nachbarorten aufgewachsen, ohne einander damals zu kennen. Als sie nun die Bildspuren ihrer Kindheiten in den obligaten Fotoalben sichten, entdecken sie erstaunt und trotz Veronikas südländischem Aussehen die kulturelle Deckungsgleichheit, „als hätten Väter und Mütter sich abgesprochen bevor sie uns in ähnlichen Posen und Kleidern und Räumen festhielten.“
Veronikas großes Wohlwollen für den plötzlich gefundenen Vater, das ferne Land und die fremde Kultur hat mit der späten Entdeckung ihrer Wurzeln zu tun, als suchte sie eine Erklärung für die Fremdheit, die ihr, auch in Sabines Erzählung, immer wieder zugeschrieben wird. Trotzdem bleibt schwer verständlich, dass Veronika sich von ihrem Vater oft wüst beschimpfen lässt oder den absurden Vorwurf einfach hinnimmt, sie würde sich um ihn nicht genug kümmern. Marvin gelingt die Abgrenzung deutlich besser. Die fatale Sehnsucht der Töchter nach absenten Vätern lässt nichts Gutes erwarten für die Zukunft, in der Väter nicht mehr nur verschwinden, sondern als anonyme Samenspender final unauffindbar bleiben.
Offenheit gegenüber Lebenswelten
Den Nachtseiten der Realität in Sri Lanka – Armut, Korruption, Gewalt und Brutalisierung durch den jahrzehntelangen Bürgerkrieg, Sexismus und die Verderbtheiten der (sex-)touristischen Übernutzung – begegnet Veronika mit einer Mischung aus Naivität und der Überzeugung, selbst Teil dieser Kultur zu sein, was sie tatsächlich in gefährlichen Situationen zu schützen scheint. Schon als ihr Vater sie rücksichtslos von einem Treffen mit angeblichen Freunden zum anderen schleppt, bei denen die Herren ihren Geselligkeiten nachgehen und auf sie keinerlei Rücksicht nehmen, während die anderen Frauen gleich in den Rauchküchen verbannt bleiben, lässt sie alles mit Neugier und stoischer Ruhe über sich ergehen. „Ich werde mich nicht ändern. Nicht für dich und auch nicht für Victor. Und schon gar nicht für diese Sterne im Hotel“, sagt Veronika einmal zu ihrem Bruder Marvin. Trotz ihrer unverständlichen Nachsicht Vater Victor gegenüber trifft das ihre in sich ruhende Offenheit fremden Lebenswelten gegenüber doch recht genau.
Als Sabine ihre Schwägerin das erste Mal nach Sri Lanka begleitet, zehn Jahre nach der Tsunami-Katastrophe von 2004, die das soziale Gefüge des Landes eher noch weiter destabilisiert hat, ist sie irritiert von Veronikas Unbekümmertheit. Für Sabine, die ein Leben lang durch ferne Länder gereist ist und sich auf die „welthaltige Phase“ihres Lebens einiges zugute hält, ist „weibliches Reisen“untrennbar verbunden mit sexistischen Übergriffen und Gewalt, die sich unheilvoll vor die Begegnung mit dem Fremden schieben. „Vorsichtsmaßnahmen aus Unmengen von Jahren, aus Unmengen von Reisen in Unmengen verschiedener Länder. Die Vorsicht berechnete sich aus den schlechten Erfahrungen. Vorwärts mit Vorgabe eines sicheren Ziels ließ weniger Raum für das Eindringen von anderen.“Veronika hingegen lässt sich beim Orientieren zusehen. Wahrscheinlich, so vermutet Sabine, war ihr „nie Schlimmes widerfahren. Wahrscheinlicher hingegen war, dass sie sich deshalb so verhielt, weil sie nie so viel gereist war wie ich.“
Ein Opfer der sexualisierten Ausbeutung europäischer Touristinnen wird dann allerdings auch Veronika. Ihr singhalesischer Lover Ravi entspricht zumindest in Teilen dem Klischee der jungen einheimischen Männer, die alternde Touristinnen umgarnen, belügen und ökonomisch ausnutzen. Doch auch das nimmt Veronika anders wahr, letztlich ist Ravi nach Victors Tod für sie einfach ein neues offenes Fenster zu ihrer schicksalhaften Wahlheimat. Das ändert sich auch nicht, als Ravi einen Studienplatz in Australien erhält. Denn „der Traum, woanders ein vollkommeneres Leben zu beginnen, wirkt in allen Gegenden der Welt, wo Menschen sich aufmachen, um sich zu verändern. Und jeder hat ein Recht darauf.“
Sabine Scholl zeichnet, auch mit der Einbeziehung verschiedener Textsorten, ein differenziertes und perspektivenreiches Bild dieses Traums und seiner Folgen für das Leben und Zusammenleben der mobilen Weltenbürger. „Das Gesetz des Dschungels“ist dabei keineswegs eine ausschließlich topografische Zuschreibung. Fremde und Heimat, Rücksichtslosigkeit und Wärme, Egoismus und Mitgefühl sind in dieser Geschichte interkontinental verteilt. Und zur Fremde wurde letztlich die Heimat selbst für Victor, der den größten Teil seines Lebens rastlos zwischen Sri Lanka und England hin- und herpendelte.