Die Presse

Die Kirche scheut das Blut

-

Karlheinz Deschners „Kriminalge­schichte des Christentu­ms“hat zehn Bände. Die sind ein wahrer Steinbruch für jegliche Sex- and Crime-Storys. 2000 Jahre christlich­e Geschichte scheint ein unerschöpf­liches Reservoir an Geschichte­n zu enthalten, mit denen die Albtraumfa­brik Hollywood bedient werden kann: sexuelle Ausschweif­ungen jeglicher Art, politische Intrigen bis hin zum Königsmord, Erpressung, Fälschung, Folter, Raub – nichts wurde ausgelasse­n und trägt bis heute zum Erfolg historisch­er Filme und Romane über die Vorgänge hinter Klostermau­ern und Kirchenpfo­rten bei. Nichts ist so absurd, dass es nicht willig geglaubt werden würde.

Für die Unterhaltu­ngsindustr­ie mag das angehen, dass aber auch Historiker Mythen und Märchen tradieren, muss man nicht schweigend hinnehmen. Einer, der die Klischees über die Geschichte des Christentu­ms nicht unwiderspr­ochen lassen möchte, ist der Arzt, Psychiater und Theologe Manfred Lütz. Als im Jahr 2000 Herbert Schnädelba­chs Studie über „den Fluch des Christentu­ms“erschien, die von der Ketzerverf­olgung und den Kreuzzügen über die Inquisitio­n und den Hexenverbr­ennungen bis zum Antisemiti­smus Skandal an Skandal reihte, dachte die aufklärte Wissenscha­ft: Das war’s wohl mit dem Christentu­m. Der Kirchenhis­toriker Arnold Angenendt aber fragte sich nach der Lektüre in bester aufkläreri­scher Manier: Und was ist stimmt nun wirklich? Punkt für Punkt ging er den Vorwürfen in Schnädelba­chs Werk auf den Grund und legte 2007 eine Untersuchu­ng unter dem Titel „Toleranz und Gewalt – Das Christentu­m zwischen Bibel und Schwert“vor.

Dieses Werk geriet für ein Publikum abseits des universitä­ren Betriebs jedoch zu akademisch. Deshalb hat sich Manfred Lütz entschloss­en, eine lesbare Fassung davon zu erstellen. „Der Skandal der Skandale – Die geheime Geschichte des Christentu­ms“heißt diese, wobei der reißerisch­e Titel nicht zur seriösen und nüchternen Darstellun­g von Lütz passt. Die ist ein ebenso spannendes wie sachliches Buch geworden. Darin geht’s weder um Skandale noch um Geheimniss­e, sondern um Fakten. Beginnen wir mit einem Lieblingsv­orurteil über die katholisch­e Kirche: Sie sei ebenso sexbesesse­n wie lustfeindl­ich, heißt es. Selbst trieben es die Kleriker wüst, den Gläubigen aber gestanden sie nicht die geringste Lust zu.

Paradigmat­isch für die klerikalen Hurenböcke steht Papst Alexander VI. Über diesen Borgia-Papst (1492–1503) strahlte das ZDF 2011 eine sechsteili­ge Dokumentat­ion (!) aus, in der, wie „Die Welt“schrieb, „ungehemmt Blut, Gift und Sperma“floss. Die Tatsachen sehen anders aus: Nun war Rodrigo Borgia zwar alles andere denn ein mönchische­r Mensch, er feierte im Vatikan rauschende Feste, zeugte Kinder, tat also genau das, was von einem Renaissanc­efürsten damals erwartet wurde; er war aber keineswegs das hemmungslo­se Sexmonster, als das ihn das ZDF darstellte, sondern ein Pater familias, der seiner Geliebten durchaus treu und den vier gemeinsame­n Kindern ein sorgender Vater war, der ihnen im Gegensatz zum Aufklärer Jean-Jacques Rousseau eine gute Erziehung angedeihen ließ. Zudem war er ein bedeutende­r Staatsmann, der einzige damals, der versuchte, den europäisch­en Sauhaufen zu befrieden. Er vermittelt­e zwischen Spanien und Portugal (Vertrag von Tordesilla­s), hielt in der Engelsburg der militärisc­hen Aggression des französisc­hen Königs stand und bemühte sich um eine Koalition gegen die Osmanen, die Venedig im Visier hatten.

Alexander war ein Herrscher, kein Heiliger, als solcher aber einer, an dem sich so mancher europäisch­e Staatsmann heute ein Vorbild nehmen könnte, etwa an Meinungsfr­eiheit. Rom war unter diesem Bischof bekannt für seine freisinnig­e und wissenscha­ftsfreundl­iche Stimmung, die sogar Ko-

Qpernikus an der dortigen Universitä­t referieren ließ. Apropos kopernikan­ische Wende: Der Inquisitio­nsprozess gegen Galilei gilt vielen als ultimative­r Beweis für die Wissenscha­ftsfeindli­chkeit der Kirche. Dabei verlangte das Inquisitio­nsgericht von Galilei erst einmal, dass er nur behaupten solle, was er auch beweisen könne. Ein vertretbar­er wissenscha­ftlicher Standpunkt. Nun bestand Galilei allerdings darauf, dass es ihm allein vergönnt gewesen sei, „alles Neue am Himmel zu entdecken“und nannte Papst Urban VIII., der ihm zuvor als Kardinal beigestand­en war, einen Dummkopf. Darin sah das Gericht einen Bruch seines schriftlic­h gegebenen Verspreche­ns, forderte ihn zum Widerruf auf und verhängte Hausarrest über ihn. Den durfte er in seiner prachtvoll­en Villa in Florenz mit zahlreiche­r Dienerscha­ft verbringen. Von Todesdrohu­ng keine Spur.

Überhaupt stellte die angeblich so grausame Inquisitio­nsgerichts­barkeit einen zivilisato­rischen Fortschrit­t gegenüber den Gottesurte­ilen dar. Wurde damit doch erstmals ein Beweisverf­ahren eingeführt. Das wurde zuerst nicht gegen Ketzer, sondern gegen Bischöfe benötigt, „die als oberste Gerichtshe­rren ihrer Bistümer bei gegen sie selbst vorliegend­en Verdachtsm­omenten die Prozesserö­ffnung verweigert­en“. Deshalb wurde eine Art Staatsanwa­ltschaft geschaffen, die die Vorwürfe in einem Verfahren entweder beweisen oder widerlegen sollte. Eine Verurteilu­ng war nur bei vollständi­gem Beweis, durch Geständnis oder mindestens zwei übereinsti­mmende Zeugenauss­agen möglich. Im Laufe der Zeit entwickelt­en diese Gerichte freilich eine gewisse Eigendynam­ik, mehr aber aus weltlichen denn aus geistliche­n Gründen. Laut Lütz waren die geistliche­n Herren tendenziel­l die Bremser bei der Verhängung der Folter zur Wahrheitsf­indung.

Es galt ohnehin der Grundsatz: Ecclesia non sitit sanguinem. (Die Kirche dürstet nicht nach Blut.) In dieser Weise widerlegt Lütz vieles, was der Kirche an Verbrechen angelastet wird, und führt diese auf ihre weltlichen Interessen zurück. Des Weiteren verliefen die ersten 1000 Jahre Christentu­m weitgehend skandalfre­i. Erst die Enttäuschu­ng darüber, dass Jesus nach 1000 Jahren nicht zurückgeke­hrt und die Welt nicht untergegan­gen war, machte die Christen nervös. Erst dann begann die eigentlich­e Kriminalge­schichte. Die ist auch nach Abzug von historisch­en Fake News nicht unergiebig, aber bei Weitem nicht so spektakulä­r, wie sie zum Beispiel Diderots Enzyklopäd­isten aus Religionsf­eindlichke­it und im 20. Jahrhunder­t die Kulturindu­strie aus kommerziel­len Gründen gesehen haben.

Der Skandal der Skandale Die geheime Geschichte des Christentu­ms. 288 S., geb., € 22,70 (Herder Verlag, Freiburg/Breisgau)

Newspapers in German

Newspapers from Austria