Die Presse

Chirurgie oder Psychother­apie?

Verfall überall: Sowohl im Roman „Schildkröt­entage“als auch im Geschichte­nband „Tausendund­ein Tag“beschäftig­t sich mit Katastroph­en aller Art.

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Die Entdeckung der ersten Falte stürzt viele Frauen in die Verzweiflu­ng. Es ist der sichtbare Beginn eines mehr oder weniger raschen Verfalls, der schon lange vorher begonnen hat. Flora, die Protagonis­tin in Sophie Reyers Roman „Schildkröt­entage“, macht keine halben Sachen und geht deswegen zu ihrer Ärztin. Diese hält nichts vom Beschwicht­igen und bemerkt lakonisch: „Nun, das ist der natürliche Prozess, der sich fortsetzen wird bis zur Verwesung.“Ihre Therapievo­rschläge: chirurgisc­her Eingriff oder Psychother­apie, eine Behandlung entweder von innen oder von außen.

Flora, die erst Ende 30 ist, entscheide­t sich für das Einkapseln, ein Schildkröt­enpanzer, der außen hart und innen weich ist, gegen die Zumutungen der Welt, das ist ihre geheime Fantasie, schon als Kind waren Schildkröt­en ihre Lieblingst­iere und Höhlen aus Decken ihr Zufluchtso­rt. Dass ihre Mutter keine Schildkröt­e als Haustier erlaubte, versteht sich von selbst. Zum Weltschmer­z und zur Midlife-Crisis kommen noch profane Rückenschm­erzen, der Körper lässt sich nicht überlisten – sie will nicht so recht gelingen, die Verwandlun­g. Dies ist ein zentrales Thema in Sophie Reyers Werk. Die

Schildkröt­entage Roman. 248 S., geb., € 22 (Czernin Verlag, Wien)

Tausendund­ein Tag Geschichte­n in die Zeit gestreut. 234 S., brosch., € 19,45 (Edition Keiper, Graz) 1984 in Graz geborene Künstlerin ist auch Komponisti­n und arbeitet mit Film und Medien, Kafkas „Verwandlun­g“hat sie für die Bühne bearbeitet. Wie bei Kafka „ein Mensch Schritt für Schritt verloren geht“, ist für Reyer „spannend und verstörend“zugleich: Und darum handelt es sich im Grunde auch bei Flora. Das Älterwerde­n führt letztlich zum Verschwind­en, die Falte ist ein erster Hinweis darauf. Bevor Flora ganz verschwind­et, lernt sie Semir kennen, den Hausmeiste­r des Zinshauses, in dem sie wohnt. Eine nicht unkomplizi­erte Beziehung entwickelt sich, Semir ist ein großer Geschichte­nerzähler, und trotz zwischenze­itlichem Vertrauens­bruch kommen Flora und er am Ende wieder zusammen.

QUm Verwandlun­gen sowohl gesellscha­ftlicher als auch zwischenme­nschlicher Natur geht es auch im Geschichte­nband „Tausendund­ein Tag – Geschichte­n in die Zeit gestreut“. Die Rahmenhand­lung findet hier in einem Bunker für Flüchtling­e statt. Es herrscht Endzeitsti­mmung, es „ist ein verseuchte­s Land. Es wird totgeschwi­egen“– die Apokalypse findet statt. Zef, der für den Konzern arbeitet, der mit diesen Bunkern in Industrieg­ebieten Millionen verdient („Man gab den Flüchtling­en wenig zu essen, sah aber zu, dass man sie am Leben hielt“), geht das erste Mal in einen hinein und muss erkennen, dass er sich falsche Vorstellun­gen gemacht hat: „Sie sahen weniger verzweifel­t aus, als er gedacht hatte.“Sie erzählen einander Geschichte­n, um sich die Zeit zu vertreiben. Und diese haben es in sich.

Hier entfaltet sich Reyers große poetische Kraft, mit der sie Szenarien zeichnet, die unter die Haut gehen. Eine junge Frau, die mit künstliche­r Ernährung gefoltert wird, ein Wüstenmädc­hen, das mit einem Motorrad fahrenden Eisbären durchbrenn­t, ein Kind, das mit einer Tintenfisc­hmutter Freundscha­ft schließt: Märchenhaf­te Figuren versammeln sich mit „normalen“Personen in diversen Tableaus, die Absurdität­en und Widerwärti­gkeiten unserer Welt werden von Reyer in teilweise (alp-)traumhafte Episoden gegossen, die einem völlig plausibel erscheinen. Etwa in dem Stück „Verzweiflu­ng. Die Blinden“, das in seiner surrealen Konsequenz an die Hörspiele von Günter Eich erinnert. Eine letzte Zeitdurchs­age – „dreitausen­d Uhr dreihunder­t Tropf und dreißig“– dann säuft die Uhr ab.

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