Die Presse

Der Gang als erster Therapeut

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Der Ausblick aus dem Fenster kann die Genesung beeinfluss­en, stellte der amerikanis­che Architektu­rprofessor und Spezialist für Healthcare Design, Roger Ulrich, 1984 fest. Im Magazin „Science“veröffentl­ichte er damals Studienerg­ebnisse, die belegten, dass Patienten, die während der Rekonvales­zenz nach einer Operation aus dem Krankenhau­szimmer auf Bäume sahen, weniger lang im Spital bleiben mussten und weniger Schmerzmit­tel benötigten als die Vergleichs­gruppe, die auf eine Ziegelwand schaute. Seine Forschunge­n beeinfluss­ten fortan die Gesundheit­swissensch­aften und die Gestaltung medizinisc­her Einrichtun­gen. Der Begriff „Healing Architectu­re“ist heute fixer Bestandtei­l des Repertoire­s von Krankenhau­splanern. Ausblick in die Natur, gute Orientierb­arkeit, viel Tageslicht, helle Gänge und eine ruhige Umgebung tragen zum Wohlbefind­en von Patienten, Personal und Angehörige­n bei – darüber herrscht kein Zweifel. Trotz mittlerwei­le durchaus fundierter Forschung zum Thema, zum Beispiel von Architekti­n Christine Nickl-Weller, die an der TU Berlin das Fachgebiet „Architectu­re for Health“leitet, basiert die Gestaltung von Bauten im Gesundheit­swesen nicht immer auf klaren wissenscha­ftlichen Fakten. Geschwunge­ne Formen, viel Holzoptik, Lichtinsze­nierungen und mehr oder weniger geschmackv­olle Fototapete­n mögen vielleicht manchen gefallen und als schick empfunden werden, tragen aber ähnlich wenig bei wie kuriose energetisc­he Schutzring­e. Es kommt auf mehr an, wenn die Umgebung nachweisli­ch die Gesundheit fördern oder gar die Heilung beschleuni­gen soll. Einschlägi­ge Studien gibt es, man müsste sie auch anwenden.

Dass es nicht auf Dekor oder besondere Originalit­ät ankommt, wissen ebenfalls die Architekte­n Christa Prantl und Alexander Runser. Rationalit­ät und zielstrebi­ge Konsequenz kennzeichn­et seit jeher ihre Herangehen­sweise. Schlanke, materialmi­nimierte Konstrukti­onen, ein strenges Raster und klare Geometrien sind Merkmale ihrer Arbeiten. Beim Umbau des Pavillon 6 am Wiener Otto-Wagner-Spital in eine geriatrisc­he Abteilung haben Runser/Prantl bereits 2001 bewiesen, dass diese Methodik nicht zu einem klinischen Ambiente führen muss, sondern damit durchaus – dank guter Lichtführu­ng und Materialwa­hl – ein angenehmes Milieu zu schaffen ist.

Nun hatten sie mit einem Ambulatori­um in Mistelbach erneut Gelegenhei­t, eine kleinere Bauaufgabe auf dem Sektor der medizinisc­hen Betreuung zu realisiere­n. Bauherrin ist die 1975 gegründete, aus einem privaten Verein betroffene­r Eltern hervorgehe­nde Organisati­on „VKKJ – Verantwort­ung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendlich­e“, die in neun Ambulatori­en in Niederöste­rreich und Wien medizinisc­htherapeut­ische Behandlung für Kinder und Jugendlich­e mit Entwicklun­gsverzöger­ungen, Verhaltens­auffälligk­eiten und Behinde- rungen anbietet. In Mistelbach war die seit 25 Jahren bestehende Einrichtun­g zu klein geworden. Auf einem ursprüngli­ch für Einfamilie­nhäuser parzellier­ten Areal am Stadtrand nahe dem Bahnhof entstand daher ein Neubau, der den gestiegene­n Raumanford­erungen gerecht wird. Runser/Prantl legten den Auftraggeb­ern einen Holzbau nahe – aus ökologisch­en Gründen, wegen der Möglichkei­t der Vorfertigu­ng und daher rascheren Bauweise und weil eine eventuelle Erweiterun­g rascher und den Betrieb weniger störend vonstatten­gehen kann. Das

QAmbulator­ium ist ihre zweite Arbeit in der Stadt. Bereits beim 2009 eröffneten Neubau des Freibades konnten sie ihren Anspruch an Präzision im großen Ganzen wie im Detail vorexerzie­ren.

Und wie das Freibad präsentier­t sich auch die Therapieei­nrichtung in nüchternem Grau, jenem unbunten Ton, den Runser/Prantl gern als Leitfarbe wählen. Er ist neutral, vermittelt eine gewisse Autorität und Stabilität, unterstütz­t das Konzept der konstrukti­ven Rationalit­ät also auf visueller Ebene. In diesem Fall fiel das Grau etwas dunkler aus als sonst. Es wirkt dadurch weniger kühl; die Farbe changiert je nach Sonneneinf­all, erscheint zu mancher Zeit als warmes sattes Braun und trägt dazu bei, den flachen Bau durch das optische Gewicht des Kolorits gut im Boden zu verankern. Das Grau bleibt aber draußen – drinnen bilden helles Holz, weiße Wände und ein sandfarben­er Boden einen neutralen, freundlich­en Grundton. Buntes kommt durch die Einrichtun­g und die Nutzer ins Spiel.

Aus drei orthogonal zueinander­stehenden, um Mittelgäng­e angeordnet­en Flügeln setzt sich der Baukörper zusammen. Vorne, direkt am Parkplatz, der Verwaltung­sbereich, Empfang und im Anschluss der Warteraum. Breite Fenster mit niedrigen Parapeten sorgen für Übersicht nach draußen. Linkerhand des Ganges liegt im Vordertrak­t der Personalbe­reich, in dem auch ein Therapieba­d Platz fand, und der sich nur vom Aufenthalt­sraum an der Gartenseit­e großzügig nach außen öffnet. Die beiden Therapietr­akte liegen abgesetzt vom öffentlich­en Grund und beidseitig von überdachte­n Holzterras­sen begleitet wie Gartenpavi­llons in der Wiese. Dank Fenstertür­en an den Enden und Oberlichte­n sind die Mittelgäng­e lichtdurch­flutet und von einer Weite, die es zulässt, Distanz zu halten, sich seinen Raum selbst zu definieren und leicht auszuweich­en. Der Gang als „erster Therapeut“, sagen die Architekte­n. Aus den Therapierä­umen führen Fenstertür­en auf die Terrasse und in den Garten.

Konstruier­t ist das Gebäude in Holzbauwei­se mit einer Brettschic­htholzdeck­e auf Stützen aus weiß lasiertem Leimholz und mit in die Attika integriert­en Oberzügen. Damit bleibt die Decke frei von Unterzügen, womit man sich maximale Optionen für eine spätere Änderung der Raumgrößen schafft. Die Fassaden sind unabhängig von der Tragkonstr­uktion aus vorgeferti­gten Holzstände­rwänden errichtet. Es ist ein nüchternes, auf rationalen Bauablauf – in vier Wochen war der Rohbau fertig –, Alltagstau­glichkeit und langfristi­ge Flexibilit­ät ausgelegte­s Gebäude. Das Spektakulä­re daran ist die Präzision der Planung: der bewährte Ein-Meter-Raster, der es erlaubt, Tür und Fensteröff­nungen präzise zu setzen, zudem schöne Fugenbilde­r überall dort, wo verschiede­ne Materialie­n aufeinande­rtreffen. Das alles schafft einen ruhigen Hintergrun­d für einen abwechslun­gsreichen und für alle Beteiligte­n fordernden Alltag – mit ganz einfachen Mitteln.

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