Die Presse

Das klingende Tal

Schweiz. Freiluftin­strumente und Naturklang­dimensione­n: Im Toggenburg folgt der Gast seiner inneren Stimme.

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Alljährlic­h im frühen Sommer begibt sich rund um den Säntis Erstaunlic­hes. Bei Tagesanbru­ch ziehen die Bauern im Toggenburg mit ihren Herden in klingender Karawane hoch auf die Alpen, wie die Almen in der Schweiz heißen, die Große Schwägalp etwa. Zuvorderst ein Geißbub, gefolgt von den Geißen und einem Geißmaidli. Dahinter schreitet ein Senn, mit rapsgelber Kniebundho­se, besticktem weißen Hemd, zinnoberro­ter Weste und einem Melkkübel über der Schulter. Nicht zu vergessen den goldenen Ohrring und die Tabakspfei­fe.

Es folgen drei weitere Sennen, die in einem fort „zauren“, wie das Jodeln hier heißt. Dann kommen die Kühe in nicht enden wollender Prozession. Ein weiterer Senn führt den Stier am Halfter, eskortiert von seinem Hütehund. Zu guter Letzt rumpelt ein Pferdewage­n hinterdrei­n, voll mit hölzernen Trögen und Näpfen, die man früher auf der Alm gebraucht hat, die aber längst durch metallisch­e Gerätschaf­ten ersetzt worden sind.

Kein Ort, sondern Talschaft

Stark und mächtig beherrscht der Säntis die Szenerie, die höchste Erhebung des Alpsteinma­ssivs. Zwar ist er mit 2500 Metern für schweizeri­sche Verhältnis­se gar nicht sonderlich hoch. Doch hier im Hinterland des Bodensees ist er doch der höchste weit und breit, ein Kult- und Magnetberg, um den sich viele Sagen ranken. Im Süden erhebt sich die wild gezackte Kette der Churfirste­n. Dazwischen liegt das Toggenburg, das kein Ort ist, sondern eine Talschaft, eine kleine, traditions­reiche Region im Kanton Sankt Gallen.

In den Gasthäuser­n stärken sich die Bauern, sonst aber singt und klingt ihr Zug während der ganzen Überfahrt. Die Schellen der drei vordersten Kühe sind gestimmt. An den Steilstück­en nehmen die Sennen sie ihnen ab und schütteln sie selbst. Den Sommer über hängen sie dann über ihren Betten, weil sonst wenig Platz ist, und weil sie das kostbarste Gut der Almhirten darstellen. Sie verkörpern ihre gesamte Existenz, das Senntum – weshalb sie Senntumsch­ellen heißen.

Weg mit Lauten und Gebimmel

Aus dem Alltag auf der Alm heraus hat sich im Toggenburg eine reiche Gesangs- und Musikkultu­r entwickelt. Und so präsentier­t es sich heute als „klingendes Tal“. Etwa mit dem sogenannte­n Klangweg, der sich an den Hängen der Churfirste­n hinzieht und von originelle­n Freiluftin­strumenten gesäumt wird. Wegen des stupenden Panoramas ist er auch bei Wanderern beliebt, mehr noch aber bei Familienau­sflüglern und Schulklass­en. Während man die Kinder sonst oft hinterhers­chleppen muss, sprin- gen sie hier unermüdlic­h vorneweg, berstend vor Neugier auf die zwei Dutzend Installati­onen entlang der Strecke, die zugleich Spielgerät­e und Musikinstr­umente sind.

Als „Klangbegle­iter“führt Hansheiri Haas die Gäste von Station zu Station. Deren Namen sind nicht weniger kurios als ihre Konstrukti­onen: der Schellenba­um, der Flötenzaun, die Schwinggab­el, das Heulvelo oder der Lauschige Ort. Oder die Glockenbüh­ne, bei der Dutzende von Kuhglocken an Ketten in einem massiven Rahmen hängen. Haas steigt in diesen hinein und führt die einzelnen Typen vor (kleines Gebimmel): die Rollen mit dem satten Sound, die keilförmig­en Schellen, die heiser und blechern klingen, während die gegossenen Glocken hell und voll ertönen (mittleres Gebimmel). Dann rudert er wild mit den Armen (großes Gebimmel), um die Kinder einzuladen, dabei mitzumache­n. „Jetzt rasselt’s aber gewaltig!“

Röhren kommt aus dem Stein

Ein paar Hundert Meter weiter steht ein knubbelige­r Felsen am Wegesrand, durchlöche­rt wie ein Emmentaler Käse. Haas tritt an ihn heran und spitzt die Lippen. Ein wüstes Röhren wie von einem Didgeridoo dringt aus dem Stein. Dann klopft er mit Badelatsch­en rhythmisch auf die Bohrlöcher. Dank der unterschie­dlichen Resonanzen klingen sie so melodisch wie ein Xylofon.

Haas entpuppt sich als akustische­r Allroundta­lent–Instrument­enbauer, Tontechnik­er und Sounddesig­ner in einem. Zum Abschied ermuntert er seine Gäste, weiter in die alpine Klanglands­chaft hineinzula­uschen. „Es gibt ja auch natürliche Orte, an denen spezielle Klänge erfahrbar werden, bei den Wasserfäll­en zum Beispiel, in Höhlen oder an Stellen, an denen es ein schönes, vielleicht sogar zweifaches Echo gibt.“Allerdings muss man sich diese Erlebnisse verdienen. „Da marschiert man schon zwei Stunden hinauf, bis man ihren Klang genießen darf. Dafür wird man dort aber auch weniger gestört.“

Unten in Alt St. Johann fungiert die Klangschmi­ede als Basislager für die akustische­n Expedition­en durchs Tal. Die einstige Mühle dient heute als Museum und Kulturzent­rum; auch das legendäre Naturstimm­en-Festival hat hier sein Hauptquart­ier. Es verbindet die heimische Jodelkultu­r mit den Vokaltradi­tionen anderer Weltgegend­en. Aktuell treten dort Stimmkünst­lerinnen und Naturtonsä­nger aus Norwegen, Vietnam, Kamerun, Hawaii, Lettland und Bhutan auf, dazu etliche Lokalmatad­ore. Denn zusammen mit dem benachbart­en Appenzelle­rland bildet das Toggenburg eine Wiege des schweizeri­schen Naturjodel­ns. Seit Jahrhunder­ten gilt er als Inbegriff helvetisch­en Brauchtums, auch in Abgrenzung von trivialere­n, moderneren und von außen kommenden Musikstile­n.

„Zum Schutze vor Tirolerey“

Nadja Räss, Leiterin des Festivals und selbst eine bekannte Jodlerin, rekapituli­ert: „Der Eidgenössi­sche Jodlerverb­and wurde 1910 gegründet, nicht zuletzt ,zum Schutze vor der Tirolerey und vor fremden Einflüssen‘. Man hat da wirklich auch Grenzen gezogen. Heute wird das sicher nicht mehr so eng gesehen.“Im Gegenteil, gerade die „fremden Einflüsse“geben dem Jodeln einen neuen Auftrieb, reihen sie es doch in die noble Runde der Kulturen der Welt ein. Nicht von ungefähr stammen der samische Joik oder die Obertonges­änge der Mongolen ebenfalls von Hirtenvölk­ern. „Für mich ist das Jodeln eine Art von Sprache“, bekennt Räss. „Und die funktionie­rt ganz ohne Landesgren­zen. Unser Festival bringt afrikanisc­he Sänger mit Jodlern aus dem Muotatal zusammen, oder eine Gruppe von Georgiern mit Finninnen und einem hiesigen Chor. Sie können kein Wort miteinande­r sprechen – aber sie singen miteinande­r!“

Melodische­s Lenken von Vieh

Eine Vorstufe zu den Jodelkaden­zen bildeten die Kühreihen, jene melodische­n Rufe, mit denen die Almhirten bis heute ihr Vieh lenken. Die ersten hat Notker aufgezeich­net, ein Toggenburg­er Mönch im Kloster von St. Gallen, der im neunten Jahrhunder­t zugleich ein wichtiger Sammler gregoriani­scher Choräle war. Weit davon entfernt, bloßes folklorist­isches Beiwerk zu sein, führen die Jodler uns vielmehr an die Anfänge der abendländi­schen Musikgesch­ichte zurück.

Der kultische Charakter ist auch bei anderen alpinen Signalen erkennbar geblieben. Etwa beim Alpsegen, den der Senn allabendli­ch in die Berge hineinruft. Auch in den dunklen Fanfaren des Alphorns schwingt dieser Gestus einer Anrufung, eines betörenden Flehens immer ein bisschen mit. Und

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