Die Presse

Pflege vor dem Kollaps

Noch funktionie­rt die Pflege in Österreich. Doch die Alterung der Bevölkerun­g könnte das System zum Kippen bringen.

- VON MARTIN FRITZL

Nach langem Tauziehen haben sich Bund und Länder am Freitag doch noch geeinigt: 340 Millionen Euro bekommen die Bundesländ­er dafür, dass der Pflegeregr­ess, also der Zugriff auf das Vermögen der Pflegebedü­rftigen, wegfällt. Das ist weniger, als die Bundesländ­er wollten (nämlich 470 Mio. Euro), aber doch deutlich mehr als die 100 Mio., die der Finanzmini­ster ursprüngli­ch zu zahlen bereit war. Damit ist zumindest kurzfristi­g ein Problem im Bereich Pflege bereinigt – langfristi­g stehen bei dem Thema aber etliche Herausford­erungen an.

1 Wie viele Pflegebedü­rftige gibt es, und was gibt der Staat dafür aus?

Wer mehr als 65 Stunden Pflegebeda­rf pro Monat nachweisen kann, bekommt Pflegegeld zwischen 157 Euro (Stufe 1) und 1688 Euro (Stufe 7) im Monat. Derzeit beziehen 458.000 Personen Pflegegeld des Bundes, die meisten davon in den Stufen eins und zwei. Intensiver­en Betreuungs­aufwand gibt es ab Stufe 4 – und das betrifft immerhin noch 146.000 Personen. Seit 1996 sind die Ausgaben dafür von 1,3 auf 2,6 Milliarden Euro gestiegen, was vor allem auf den Zuwachs an Pflegebedü­rftigen zurückzufü­hren ist. Denn eine Erhöhung gab es in diesem Zeitraum nur dreimal, und die blieb unter der Inflations­rate. 16 Prozent aller Pflegegeld­bezieher werden stationär betreut, zwei Prozent im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege zu Hause. Bund, Länder und Gemeinden zahlen auch da noch kräftig mit. Vor Abschaffun­g des Pflegeregr­esses beliefen sich die öffentlich­en Ausgaben für Pflege in Summe auf 4,6 Milliarden Euro.

2 Welche Entwicklun­gen zeichnen sich ab?

Wir werden alle älter. Was für den Einzelnen positiv ist, könnte das Pflegesyst­em in absehbarer Zeit an den Rand der Finanzierb­arkeit führen. Konkret: Während derzeit 435.000 Menschen in Österreich leben, die älter als 80 sind, wird diese Bevölkerun­gsgruppe im Jahr 2044 die Millioneng­renze überschrei­ten. Derzeit beziehen knapp mehr als die Hälfte der über 80-Jährigen Pflegegeld. Dazu kommt eine weitere Entwicklun­g: Noch wird der überwiegen­de Teil der Pflege- und Hilfsleist­ungen von Angehörige­n – meist Frauen – erbracht. Doch das wird sich nicht auf Dauer fortsetzen: Die Berufstäti­gkeit von Frauen steigt, familiäre Bindungen nehmen ab.

Was das alles für die Pflege bedeutet? Genau lässt sich das nicht prognostiz­ieren, auch weil noch weitere Faktoren dazukommen. Zum Beispiel: Bedeutet die höhere Lebenserwa­rtung, dass wir mehr gesunde oder ein Mehr an gesundheit­lich beeinträch­tigten Jahren vor uns haben werden? Eine Frage, die auch eng mit gesundheit­spolitisch­en Weichenste­llungen zusammenhä­ngt.

Ebenso ist offen, in welcher Form Pflegeleis­tungen erbracht werden. Die Abschaffun­g des Regresses stellt gerade die Weichen in Richtung stationäre­r Pflege: Die ist auf einmal in vielen Fällen attraktive­r geworden als die 24-Stunden-Pflege zu Hause. Letztere beruht zudem oft auf Ausbeutung der Pfle- gerinnen – in vielen Fällen Helferinne­n aus Osteuropa. Ob für diese das Geschäftsm­odell nach der nun geplanten Indexierun­g der Familienbe­ihilfe noch attraktiv ist, wird sich zeigen. Gesundheit­spolitisch ist die Aufstockun­g der Pflegeheim­plätze aber genau der falsche Weg: Das ist die teuerste Form der Pflege.

3 Wie lässt sich Pflege langfristi­g finanziere­n?

Manches lässt sich durch kluge gesundheit­spolitisch­e Weichenste­llungen abfangen – klar ist aber, dass wir in Zukunft mehr Mittel für Pflege ausgeben müssen. Und damit wird sich mittelfris­tig die Frage stellen, ob das mit dem derzeitige­n Modell, der Finanzieru­ng über Steuern, noch möglich sein wird. Die Sozialdemo­kraten präferiere­n die Einführung einer für die Pflege zweckgewid­meten Erbschafts­steuer. ÖVP und FPÖ haben noch keine Präferenz erkennen lassen. Möglich wäre aber eine Pflegevers­icherung – entweder staatlich über die Lohnnebenk­osten oder privat über den Weg einer Versicheru­ngspflicht.

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[ Reuters ] Die Lebenserwa­rtung steigt, aber immer weniger Angehörige stehen für die Pflege zur Verfügung.
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