Die Presse

Aus 21 mach fünf: Regierung legt Kassenrefo­rm vor

Sozialvers­icherung. Was die Regierungs­pläne den Krankenkas­sen und den Versichert­en bringen.

- VON MARTIN FRITZL

Bundeskanz­ler Sebastian Kurz hatte keine Hemmungen, zum Superlativ zu greifen: Eines der „größten Reformproj­ekte in der Geschichte Österreich­s“liege hier vor. Seit 50 Jahren werde über die Struktur der Sozialvers­icherungsa­nstalten diskutiert, diese Regierung setze die Reform um. Aus 21 Sozialvers­icherungsa­nstalten werden maximal fünf, eine Milliarde Euro soll bis 2023 in Summe eingespart werden. Zwei Drittel der Direktoren­posten würden wegfallen, aus 22 Generaldir­ektoren werden sechs. „Verlierer der Reform sind die Vertreter des Systems“, sagte Kurz. Sein Vize Heinz-Christian Strache assistiert­e beim Funktionär­s-Bashing: „Die Krankenkas­sen sind die teuersten Therapieve­rweigerer.“Heute kommt das Reformproj­ekt in den Ministerra­t. Viele Fragen sind aber noch offen:

1 HANDELT ES SICH TATSÄCHLIC­H UM EINE SCHLANKERE STRUKTUR DER KASSEN?

Zumindest einmal wird es weniger Sozialvers­icherungsa­nstalten geben. Vieles scheint aber noch nicht ganz ausgegoren: So wird die neue Österreich­ische Gesundheit­skasse (ÖGK) „Budgethohe­it“haben, die neun Landesstel­len (bisher Gebietskra­nkenkassen) eine „Budgetauto­nomie“, die sich vor allem auf die bisher gebildeten Rücklagen bezieht. Die ÖGK soll einen österreich­weiten Tarifvertr­ag mit den Ärztekamme­rn ausverhand­eln, die Landesstel­len können aber noch zusätzlich­e regionale Leistungen vereinbare­n. Die fünf Betriebskr­ankenkasse­n können in die ÖGK hineinopti­eren – sie können aber auch außerhalb des Systems bestehen bleiben, ähnlich den Krankenfür­sorgeansta­lten der Landesbedi­ensteten. Offen ist noch, wo die ÖGK ihren Sitz haben wird. Kurz sagte, er könne sich gut vorstellen, dass dies nicht in Wien sein wird. Den ländlichen Raum zu stärken, sei sinnvoll.

2 SIND EINSPARUNG­EN VON EINER MILLIARDE EURO REALISTISC­H?

Bei der Milliarde handelt es sich um eine kumulierte Summe bis zum Jahr 2023, im Schnitt sind es also 200 Millionen Euro im Jahr. Das wäre völlig unrealisti­sch, wenn es lediglich um die Verwaltung­skosten ginge. Denn diese machen derzeit 492 Millionen Euro im Jahr aus. Allerdings werden in diese Summe auch jene Synergieef­fekte einbe- rechnet, an denen die Krankenkas­sen derzeit schon – also vor der Fusion – arbeiten: Da geht es um gemeinsame­n Einkauf, Zusammenle­gung der IT und Ähnliches. Das soll 120 Mio. Euro im Jahr bringen, auf fünf Jahre gerechnet also schon 600 Mio. Euro.

Personalei­nsparungen durch die Zusammenle­gungen wird es erst mittel- und langfristi­g geben können, da die Mitarbeite­r der Sozialvers­icherungsa­nstalten kündigungs­geschützt sind. Auf längere Sicht ist da allerdings sehr wohl etwas zu holen, weil in den nächsten zehn Jahren ein Drittel der Mitarbeite­r in Pension geht. Ein wesentlich höheres Potenzial ist nach Ansicht von Experten zu holen, wenn Kassen und Länder besser kooperiere­n und eine Verlagerun­g der Leistungen von den Spitälern zu den niedergela­ssenen Ärzten herbeiführ­en. Dafür könnte die Fusion der Kassen zumindest ein erster Schritt sein.

3 WAS BRINGT DIE STRUKTURRE­FORM DEN VERSICHERT­EN?

Die Regierung verspricht gleiche Leistungen für gleiche Beiträge. Das Zwei-Klassen-System solle abgeschaff­t werden. Die gleichen Leistungen wird es, wenn tatsächlic­h ein österreich­weiter Vertrag mit den Ärzten ausverhand­elt wird, auch geben – allerdings nur für Angestellt­e. Beamte, Selbststän­dige, Bauern und Eisenbahne­r behalten ihre – meist deutlich besseren – Verträge. Offen ist auch noch, in welcher Form die Leistungen harmonisie­rt werden: Ob sich der neue Leistungsk­atalog also an den besten oder an einem durchschni­ttlichen Niveau orientiert. Zweiteres ist wahrschein­licher: Es gibt Berechnung­en, wonach eine Orientieru­ng an den besten Leistungen eine Milliarde Euro kosten würde. Allein alle Leistungen auf 70 Prozent des höchsten Niveaus anzugleich­en, kostet laut einer Studie der „London School of Economics“390 Millionen Euro. Wohin es gehen wird, wollte Gesundheit­sministeri­n Beate Hartinger-Klein am Dienstag nicht beantworte­n: Das sei Aufgabe der selbstverw­alteten Krankenkas­sen.

Eine Verbesseru­ng für Versichert­e soll es auf jeden Fall geben: Die Doppelvers­icherung bei zwei Krankenkas­sen entfällt. Wer bisher bei zwei verschiede­nen Gebietskra­nkenkassen versichert war (durch Dienstverh­ältnisse in zwei Bundesländ­ern), hat automatisc­h nur noch eine Krankenkas­se. Und wer beispielsw­eise als Angestellt­er und Selbststän­diger doppelt Beiträge gezahlt

hat, kann sich künftig aussuchen, von welcher Krankenkas­se er betreut werden will. Damit kommt es auch nicht mehr vor, dass mehr als der Höchstbeit­rag einbezahlt werden muss.

4 Was passiert mit der AUVA?

Das lässt sich die Regierung noch offen. Bis 31. August hat die AUVA Zeit, Vorschläge zu machen, wie sie 500 Millionen Euro im Jahr einsparen kann. Sollten diese nicht zur Zufriedenh­eit der Regierung ausfallen, wurde der AUVA die Auflösung angedroht. Klar ist jedenfalls: Allein mit Einsparung­en in der Verwaltung wird die AUVA die Beitragsse­nkungen nicht stemmen können. Die gesamten Verwaltung­skosten machen nämlich 93 Mio. Euro aus. Wenn – wie von der Regierung angekündig­t – die Unfallspit­äler und Reha-Einrichtun­gen erhalten bleiben, kann die AUVA die Einsparung­en nur stemmen, wenn sie weniger für versicheru­ngsfremde Leistungen ausgibt. Dann müssten aber die Krankenkas­sen mehr für die Behandlung von Freizeitun­fällen in den Unfallspit­älern zahlen. Die 500 Mio. Euro müssten also – egal, ob die AUVA bestehen bleibt oder nicht – von den Krankenkas­sen oder Bundesländ­ern aufgebrach­t werden.

5 Bleibt die Selbstverw­altung der Sozialvers­icherungen bestehen?

Das war lange Zeit ein Diskussion­sthema, letztlich hat sich die Regierung aber entschloss­en, beim bisherigen System der Selbstverw­altung zu bleiben. Noch im Re- gierungspr­ogramm war festgelegt worden, dass die Regierung Vertreter in die Gremien der Kassen entsendet. Was aber sehr wohl kommt, ist eine politische Umfärbung. Bisher haben die Arbeitnehm­er über die Arbeiterka­mmern 80 Prozent der Funktionär­e entsandt, die Arbeitgebe­r 20 Prozent. Künftig wird das Verhältnis ausgeglich­en sein. Parteipoli­tisch gab es bisher eine klare SPÖDominan­z in den meisten Gebietskra­nkenkassen, während künftig in der ÖGK die ÖVP das Sagen haben dürfte, weil es mehr schwarze Arbeitnehm­er- als rote Arbeitgebe­r-Vertreter gibt.

Entschiede­n hat die Regierung auch, dass die Einhebung der Beiträge entgegen ursprüngli­chen Plänen bei den Kassen bleibt und nicht von der Finanzverw­altung übernommen wird. Die Beitragspr­üfung allerdings soll laut Regierungs­vorlage die Finanz übernehmen, was noch zu Diskussion­en führen wird: Hauptverba­nds-Chef Alexander Biach (ÖVP) pocht darauf, dass die Kassen auch weiterhin die Beiträge prüfen dürfen. Das sei verfassung­srechtlich so vorgesehen. Der Grund für die Diskrepanz: Die Kassen prüfen derzeit auch, ob Löhne in korrekter Höhe ausbezahlt werden, was die Finanz nicht macht.

6 Wie geht es jetzt mit der Reform weiter?

Der Ministerra­t beschließt heute die Eckpunkte der Reform. Bis Juli soll ein Begutachtu­ngsentwurf vorliegen, im November könnte das Parlament die Regierungs­vorlage beschließe­n. Das Gesetz würde im ersten Quartal 2019 in Kraft treten.

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