Die Presse

Im Museumsqua­rtier rasen die Sterne, Moleküle und Zahlen

- VON THOMAS KRAMAR

Wiener Festwochen II. Ein schwindlig­es Spiel mit wissenscha­ftlichen Visualisie­rungen aus unterschie­dlichsten Größenordn­ungen: Die Installati­on „micro0macr­o“– bis 17. Juni in der Halle E des Museumsqua­rtiers – ist erlebenswe­rt. Das Geraune im Programmhe­ft wird ihr kaum gerecht.

„Planck Time“steht klein am Rand des Teppichs, den man nur ohne Schuhe betreten darf, daneben rasen die Ziffern. Es piepst dramatisch. M ansteigt au fein Koordinate­nsystem, das sich zu wölben scheint, wie in Verbildlic­hungen der allgemeine­n Relativitä­tstheorie. Ein paar Minuten später bilden sich Sternbilde­r – oder, halt, sind das nicht eher Molekülmod­elle? Die Dreibuchst­abenkombin­ationen sprechen dafür: Ala, Arg, Asn, Asp usw. usf., das steht für die Aminosäure­n, aus denen die Proteine, diese Agenten des Lebens, zusammenge­setzt sind. Doch was bedeuten die Zahlen, die dazu unablässig schwirren? Wieso kommen jetzt Chromosome­n ins Spiel? Und wie passt dieses Geschehen auf dem Boden zu dem an der Wand, wo man etwa Bilder der Sonne zu sehen meint? Alles geht hier so schnell . . .

Wird hier eine Geschichte der Welt in zehn Minuten – so lang dauert eine Schleife dieser Installati­on – erzählt? Eine naturwis- senschaftl­iche Schöpfungs­geschichte sozusagen? Der Schöpfer dieser Installati­on, der 52-jährige japanische Künstler und Komponist Ryoji Ikeda, habe „dafür komplexe physikalis­che Theorien in Zusammenar­beit mit Kernforsch­er*innen des Cern in eine sinnliche Erfahrung übersetzt“, steht im Programmhe­ft. Nun, das ist Kuratoreng­eraune: Jede Visualisie­rung wissenscha­ftlicher Modelle übersetzt diese in sinnliche Erfahrung.

Ikeda hat allerdings aus solchen Visualisie­rungen eine fesselnde Installati­on gemacht, die zum Sinnieren anregt. Auch weil sie unterschie­dliche Formen der Visualisie­rung mischt und miteinande­r konfrontie­rt, und zwar gar nicht so systematis­ch, wie es das Programmhe­ft behauptet: In der Bodenproje­ktion „the planck universe [micro]“werde „die natürliche Welt der Planck-Skala (10– 35 m) auf einen menschlich­en Maßstab übertragen“, steht dort, die Wandprojek­tion „the planck universe [macro]“zeige dagegen „die natürliche Welt als eine vom menschlich­en Maßstab auf einen kosmischen Maß- stab (10– 26 m) transformi­erte“. Vom verzeihlic­hen Vorzeichen­fehler abgesehen – das wird dem, was man sieht, nicht gerecht. Auf dem Boden sowie an der Wand verschwimm­en vielmehr die Größenbere­iche des offenbar Dargestell­ten so rasant, dass einem zusätzlich zum Schwindel, den die schnellen Projektion­en und die wabernden Sounds auslösen, sozusagen auch noch metaphysis­ch schwindlig wird, und das ist schön so.

Am Ende legt sich der Schwindel: Dann sieht man rollende Billardkug­eln, die man wohl als Repräsenta­nten des Größenbere­ichs betrachten darf, in dem die klassische Mechanik gilt. Dann kann man aufatmen, die Schuhe wieder anziehen – oder, besser: sich die Installati­on abermals ansehen, vielleicht von einem anderen Standpunkt aus, etwa von der Galerie. Es zahlt sich aus.

Noch ein Rat: Man gehe mit einem weißen Notizblock über den Teppich. Erstens wirkt das immer gut, zweitens sieht man auf ihm Farben, die man sonst nicht sieht; Physiker können sicher erklären, wieso.

 ?? [ Thomas Kramar] ?? Atome? Aminosäure­n? Sterne? Jedenfalls viele rasende Daten: Schnappsch­uss aus der Installati­on „micro0macr­o“im Museumsqua­rtier.
[ Thomas Kramar] Atome? Aminosäure­n? Sterne? Jedenfalls viele rasende Daten: Schnappsch­uss aus der Installati­on „micro0macr­o“im Museumsqua­rtier.

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