Jeder sein eigener Sheriff
1935 reisten zwei Russen für die „Prawda“durch die USA. Felicitas Hoppe folgte 2015 ihren Spuren. Dass da gerade Donald Trumps Präsidentschafts-Wahlkampf im Gange war, sorgt für die Würze ihres Reiseberichts.
Wenn eine „amerikanische Reise“mit dem russischen Wort „Prawda“(Wahrheit) betitelt wird, klingt das nach Ironie. Wenn zudem Felicitas Hoppe als Autorin auftritt, ist Vorsicht angebracht. Doch die „Prawda“spielt in ihrem neuesten Buch tatsächlich eine entscheidende Rolle.
Es waren nämlich einmal zwei Korrespondenten dieser russischen Zeitung, sie reisten 1935 in deren Auftrag durch die Vereinigten Staaten. Dreieinhalb Monate waren Ilja Ilf und Jewgeni Petrow unterwegs, und noch während ihrer Reise erschien die erste Reportage, alle Texte zusammen dann 1937 – zur Zeit des stalinistischen Terrors – als Buch mit dem Titel „Das eingeschossige Amerika“. Fasziniert von dem Land, dessen Sprache sie nicht sprachen, formten sie ihre Beobachtungen aber durchaus literarisch, fast romanhaft, was sich etwa an der Beschreibung der Figur des Reiseführers Mr. Adams erkennen lässt. Wie dieser einst die Russen spricht in Hoppes Buch nun die Ich-Erzählerin ihre Leser an. „Schreiben Sie das in Ihre Notizbücher, Gentlemen.“Und: „Ich bin der, der einfach nur mitfährt, der klassische Windschattentyp. Nacherzähler und Trittbrettfahrer, Karl May und Frau Eckermann in einer Person.“
Tatsächlich ist Felicitas Hoppe im Jahr 2015, also 80 Jahre nach Ilf und Petrow und 200 Jahre nach dem Erscheinen von Alexis Tocquevilles Buch „Über die Demokratie in Amerika“, der Route der beiden Russen nachgereist. Der US-Wahlkampf war gerade in vollem Gange, als sie im September mit drei Reisegefährten aufbrach. Für ihren Roman verkleidete und verwandelte Hoppe allerdings die Darsteller. Als die Schrecklichen Vier reisen mit der Ich-Erzählerin ein als Landschaftsgärtner getarnter Künstler aus Kiew, die Fotografin Jerry mit der Objektiven Tasche und dem Projekt „Bräute am Wegrand“und Ann Adams, in die USA emigrierte Gelehrte aus Wien, die den rubinroten Ford Explorer zur Verfügung stellt. „Ist jederzeit vorbereitet auf alles, was kommt. Unbestechlich. Weiß immer Bescheid und weiß fast alles besser.“Nicht dem Navi vertraut sie, sondern nur dem eigenen Kopf. Diese Typen werden halten, was ihre Einführung verspricht, während der vierzig Tage von der Ostküste zur Westküste und wieder zurück.
Hoppe arbeitet mit Wiederholungen von Motiven und Sätzen, sie textet Refrains und liebt Sentenzen, die sie variiert, und sie ist wie alle guten Erzählerinnen eine Meisterin im Umgang mit der Zeit. Ihre Erzählposition könnte man mit der Sitzposition ihrer IchErzählerin umschreiben. Diese liebt nämlich während der Reise den sogenannten Tocquevilleerker, den Platz hinter dem Fahrer, auf dem sie lesen und ungestört schau- en kann. Ein gutes Künstlerversteck für denjenigen, „der die Dinge gern etwas anders betrachtet, immer leicht nach hinten verschoben und damit immer der Zeit voraus“.
Es ist ein Vergnügen, mit der BüchnerPreisträgerin zeitenverschiebend durchs vertraut-unvertraute Amerika zu reisen, die Motelzimmer ebenso zu riechen wie das Essen im Diner zu schmecken. Als realen Reisebericht könnte man ihre Prosa insofern lesen, als es die Orte gibt und auch die Museen, die aufgesucht werden. Man könnte Hoppe nachreisen, so man die Zeit und das nötige Kleingeld dafür hat. Politischer als ihre Texte sonst wirkt dieses Buch, denn Ort und Zeit ihrer Tour (das US-Wahlkampfjahr) schieben sich in den Text, und unheimliche Gestalten wie jene, die an unterschiedlichen Orten ihre Zeit damit verbringen, „eine Sammlung kleinerer Handfeuerwaffen in eine höhere Ordnung zu bringen“, wirken gar nicht so erfunden. Man kann aber auch lesend lustvoll Vergleiche mit dem Buch der beiden Russen anstellen.
Aber nicht das Wiedererkennen ist vor allem faszinierend, sondern die Verwandlung, die hier geschieht und auch thematisiert wird. „Prawda“ist eine Reise ins Land der Metamorphosen, also mitten hinein in die Möglichkeiten der Literatur. Hoppe weist schon in ihrem ersten Satz darauf hin: „Wir sind hier doch nicht in Amerika!“
Eine Reise durch die USA ist immer eine Reise durch ein Land der Projektionen und Träume. Kaum ein Land scheint dermaßen bekannt durch Bilder, sodass man durch die USA fahrend meint, an längst gesehenen Filmen und Bildern vorbeizukommen. Mit dem „Land unserer Träume“fängt Felicitas Hoppe denn auch ihr Buch an: „Ein freies Land mit sehr freien Menschen, jeder sein eigener Sheriff.“
Auch Ilf und Petrow staunten und träumten sich durch die USA. Vor allem die technischen Errungenschaften faszinierten sie. Henry Ford, „der Autokönig und Antisemit“, beschloss bereits vor hundert Jahren, „die Menschheit insgesamt für immer mobil und glücklich zu machen“. Dass der Segen der Technik aber auch seine Kehrseite hat und Fortschritt und Vernichtung oft nahe beieinander liegen, zeigen die Orte, die Ilf und Petrow besucht haben und auch Hoppe thematisiert. Hier der elektrische Stuhl, dort der Traum von Küchen, die die Hausfrau von morgen entlasten sollen. (Doch auch 80 Jahre danach kochen noch längst nicht alle am elektrischen Herd.) Auch zum Inbegriff der amerikanischen Erfolgsgeschichte, ins Silicon Valley, fährt Hoppes Reisegesellschaft und findet dort statt Technik: Märchen. Denn selbst die heutigen Träume von Wohlstand, Fortschritt und Glück sind aus dem alten Märchenstoff.
Die Frage nach dem Machbaren und nach dem Möglichen beziehungsweise Unmöglichen zieht sich durch die gesamte Prosa. Märchen haben immer schon von harter Realität und menschlichen Sehnsüchten erzählt, und von der Unmöglichkeit, manche Wünsche zu realisieren, „weil das Glück insgesamt nicht zu haben ist“. Aber sie erzählen auch, wie Menschen ihre Realität mittels Wunschdenken zu überwinden versuchen. Ein Narr daher, wer sich daran stößt, dass diese Reise immer märchenhafter wird, bis die Ich-Erzählerin in einer Sturmnacht, statt sich in den schützenden Keller zu begeben, aufs Hausdach steigt, um dem Twister Aug in Aug zu begegnen und sich dabei richtig frei zu fühlen. Sie überlässt sich der Windhose und schwebt in eine eigene Geschichte, bis sie an der Westküste wieder auf ihre Reisebegleiter trifft. Dieser Wunsch ist gar nicht so fantastisch, sondern wie jedes Märchen ziemlich realistisch. Denn, Hand aufs Herz, wer, wochenlang mit Reisebegleitern in ein Auto gesperrt, mit all der Gruppendynamik, die das ergibt, verspürte nicht einmal den Wunsch, daraus zu entfliehen, und sei es mit dem Wind? Um dann doch – sicherheitshalber! – am Happy End wieder im Schoß der Familie respektive der Freunde zu landen.
Was haben sie eigentlich gesucht, die vier Reisenden, welche Art von Schatz? Und was haben sie gefunden? Zumindest Tausende Fotos gibt es nun. Und ein Buch. Und die Wahrheit? Lässt sich vielleicht gerade durch dieses wundersame Märchen erkunden.