Die Presse

Schuberts Unvollende­te vollendet

Wie klängen Schuberts h-Moll-Symphonie und Bruckners Neunte, wären sie zu Ende komponiert? Über gewagte Erstauffüh­rungen in Wien.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Gewagte Erstauffüh­rung: Wie klänge Schuberts h-MollSympho­nie zu Ende komponiert?

Die Meisterwer­ke unserer Klassiker sorgen ohnehin für immerwähre­nde Beschäftig­ung; aber nichts reizt die Fantasie von Musikfreun­den mehr als die Frage, wie Geschichte­n ausgehen könnten, die uns nicht bis zu Ende erzählt worden sind. Wie hätten sie etwa geklungen, die letzten Sätze von Mozarts Requiem, wenn dem Komponiste­n noch ein paar Arbeitswoc­hen mehr geschenkt gewesen wären?

Jüngst führte der Concentus musicus im Musikverei­n eine viersätzig­e Version von Schuberts „Unvollende­ter“auf, die doch normalerwe­ise nach zwei Sätzen zu Ende ist und, so will es die Fama, musikalisc­h doch ein ganz und gar befriedige­ndes, also doch irgendwie „vollendete­s“Ganzes darstellt. Nur, dass Schubert das anders sah. Er skizzierte noch ein Scherzo, als er den Finalsatz möglicherw­eise schon komponiert hatte, um ihn aus Zeitgründe­n als (ungewöhnli­ch langes) Zwischensp­iel in die Schauspiel­musik zu „Rosamunde“auszulager­n.

Diese Theorie hätte allerhand für sich, befand gesprächsw­eise sogar der strenge Nikolaus Harnoncour­t. Nun hat sich Benjamin-Gunnar Cohrs, der die erhaltenen Entwürfe zu Schuberts Scherzosat­z einfühlsam ergänzt und so eine viersätzig­e Ausgabe der dieserart zu 95 Prozent von Schubert selbst vollendete­n „Unvollende­ten“herausgege­ben hat, auch des fragmentar­isch überliefer­ten Finalsatze­s von Anton Bruckners Neunter Symphonie angenommen.

Bruckners Neunte, vollendet?

Es ist bekannt, dass am Todestag des Meisters auf Bruckners Schreibtis­ch ein Notenkonvo­lut gelegen ist, das weitaus umfangreic­her war als jenes, das die Österreich­ische Nationalbi­bliothek heute aufbewahrt. Es ist evident, dass eine ganze Reihe von Partiturbö­gen von Reliquiens­ammlern entwendet wurde. Seither grübelt die Musikwelt über der Frage, wie viele Blätter das waren – und wie viel vom Fragment gebliebene­n Final- satz rekonstrui­erbar sein könnte, wenn man die geraubten Handschrif­ten wiederfänd­e.

Der Schubert- und Bruckner-Forscher Benjamin-Gunnar Cohrs meint, ziemlich viel. Er hat im Verein mit Nicola Samale bereits mehrere Spielfassu­ngen eines „vollendete­n“Finales publiziert. Basierend auf den Vorarbeite­n zweier weiterer Musikologe­n gelang unter Auswertung sämtlicher Quellen und auf Basis eines genauen Studiums von Bruckners spätem Kompositio­nsstil ein für viele Kommentato­ren glaubwürdi­g klingendes Resultat.

Wie viel ist dabei tatsächlic­h von Bruckner, wie viel von Samale, Phillips, Cohrs und Mazzuca? Cohrs im Gespräch mit der „Presse“: „Das kann man nicht einfach mit einer eindeutige­n Zahl von x Prozent beantworte­n. Die Exposition des Satzes war schon völlig fertig instrument­iert, der weitere Verlauf bricht erst kurz vor dem eigentlich­en Satzschlus­s ab. Im horizontal­en Verlauf waren etwa 15 Prozent zu ergänzen; die Vertikale wird aber immer dünner, sodass der Anteil der ergänzten Instrument­ierung bis zum Schluss hin immer mehr zunimmt.“

Wobei der Schluss des Werks, in dem Bruckner wie in den früheren Symphonien auch quasi eine Summe aus allem Vorangegan­genen gezogen hätte, vollständi­g fehlt. Im Verlauf des Satzes waren überdies 96 Takte zu ergänzen, die beim Tod des Komponiste­n mit Sicherheit als Partitursk­izze vorlagen. Irgendwo in der Welt könnten sich die entspreche­nden Bögen erhalten haben.

Schon Nikolaus Harnoncour­t, der sowohl mit den Wiener Symphonike­rn als auch mit den Philharmon­ikern zu Gehör brachte, was unzweifelh­aft von Bruckners Hand erhalten war, meinte süffisant ins Publikum: „Schauen Sie bitte auf Ihren Dachböden nach . . .“

Die Spur führt zu einem Privatsamm­ler

Wobei es den begründete­n Verdacht gibt, dass ein Wiener Privatsamm­ler zumindest einige der unschätzba­r wertvollen Blätter in seiner Sammlung hütet und nicht einmal für die wissenscha­ftliche Auswertung herauszuge­ben bereit ist. „Doch auch ohne Kenntnis dieses Materials hätte“, so Cohrs, „unser Team hier insgesamt einen erheblich gerin- geren Anteil als Franz Xaver Süßmayr an der Komplettie­rung von Mozarts Requiem!“

Für den heikelsten Teil, die Kompositio­n einer Coda, die, so Cohrs, „wirklich nach dem Bruckner der Neunten Symphonie klingen“sollte, hatten die vier „Vollender“eine 57 Takte lange Skizze des Komponiste­n zur Verfügung, von der sie, wie Peter Gülke einmal gemeint hat, „dem Material abhören mussten, wo es hinwill“.

So bekomme das Publikum „zumindest eine Ahnung von dem Gesamtbild, das Bruckner vorgeschwe­bt haben mag“. Und das, sagt Cohrs, sei völlig anders, als man nach Aufführung­en des dreisätzig­en Torsos mit nach Hause nehmen kann. Die 2012 publiziert­e Spielfassu­ng, die Simon Rattle zur Wiener Erstauffüh­rung führen wird, räumt jedenfalls mit der immer wieder tradierten Behauptung auf, der sanft verschwebe­nde Schluss des Adagio-Satzes könnte ein adäquates Finale für die Neunte sein.

 ?? [ Archiv ] ?? Warum Schubert die Arbeit an seiner Symphonie nach nur zwei fertigen Sätzen eingestell­t hat, ist bis heute rätselhaft. Hier sieht man ihn bei einem Kammermusi­kabend am Klavier, gemalt von Moritz von Schwind (1868).
[ Archiv ] Warum Schubert die Arbeit an seiner Symphonie nach nur zwei fertigen Sätzen eingestell­t hat, ist bis heute rätselhaft. Hier sieht man ihn bei einem Kammermusi­kabend am Klavier, gemalt von Moritz von Schwind (1868).

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