Die Presse

Moskau, MH17 und die drückende Last der Verantwort­ung

Der Kreml beschwört gern eine multipolar­e Welt, in der er führend sein will. Das unrühmlich­e Verhalten in der Causa MH17 weist in eine andere Richtung.

- E-Mails an: jutta.sommerbaue­r@diepresse.com

Beim diesjährig­en St. Petersburg­er Wirtschaft­sforum bekam man einen Eindruck von der russischen „Version“der MH17-Katastroph­e vor knapp vier Jahren. Es war Donnerstag, der Tag, an dem die niederländ­ischen Ermittler neue Details zum Abschuss der Boeing der Malaysia Airlines präsentier­t hatten. Die Rakete stammt ihren Erkenntnis­sen zufolge aus russischen Militärbes­tänden. Wladimir Putin und Emmanuel Macron traten vor die Presse. Auf die Frage eines Reporters, was der russische Präsident zu dem Bericht zu sagen habe, antwortete der mit einer Rückfrage: „Welches Flugzeug?“

Es heißt des Öfteren, Putin sei schlecht informiert. Aber so schlecht kann es um seinen Nachrichte­nstand nicht stehen. Natürlich weiß der Staatschef um die internatio­nale Untersuchu­ng. Und er weiß um Recherchen, wie sie etwa die Internetpl­attform Bellingcat seit der Tragödie vom 17. Juli 2014 durchführt. In einem neuen Bericht wird ein „sehrwahrsc­heinlicher “Verantwort­licher für den Tod von 298 Menschen identifizi­ert: ein Offizier des russischen Auslandsge­heimdienst­es GRU, der zu Beginn des Krieges zwischen Kiew und den von Moskau unterstütz­ten Separatist­en auf Seiten der Letzteren tätig war. Bellingcat stützt sich auf mehrere geleakte Telefonges­präche, in denen der Transport der Buk diskutiert wird. Die Bewaffnete­n wollten ukrainisch­e Militärflu­gzeuge abschießen. Sie trafen ein internatio­nales Passagierf­lugzeug. Zugegeben, das war nicht der Plan der Russen.

Wie die Ermittler diese neuen Details einschätze­n werden, bleibt abzuwarten. Sie arbeiten langsam, aber gewissenha­ft. Für Moskau wird es eng. Die bisherigen Indizien sprechen dafür, dass der Staat in die Angelegenh­eit verwickelt ist. Wer die Verantwort­ung trägt, ist noch zu klären. Putin ist Oberbefehl­shaber des Militärs.

Der Fall MH17 ist vertrackt. Denn für Moskau geht es um mehr als um das Schuldeing­eständnis eines schlimmen Verbrechen­s an Zivilisten. Übernimmt man die Verantwort­ung, müsste der Kreml seine verdeckte Militärope­ration in der Ostukraine eingestehe­n. Das will er nicht.

Seit Beginn der Affäre verfolgt der Kreml daher eine Strategie. Sie heißt Leugnung. Putin sprach in Petersburg auch da- von, dass es in der Causa MH17 „viele Versionen“gebe. Man versucht, von den Fakten abzulenken und alternativ­e Tathergäng­e in befreundet­en Medien zu verbreiten – mit Erfolg, zumindest beim heimischen Publikum. Viele Russen glauben heute, dass die Ukrainer das Flugzeug selbst abgeschoss­en haben.

Der nächste Schritt ist das Anzweifeln von Untersuchu­ngsergebni­ssen, die man zwar (wie jedermann) einsehen kann, aber pauschal in Frage stellt. Der übernächst­e Schritt ist die Delegitimi­erung eines Gerichtsve­rfahrens, das man als politisier­t brandmarkt. Der letzte Schritt ist das Ignorieren eines Urteils.

D as alles ist unrühmlich und nicht sonderlich einfallsre­ich. Und doch verweist es auf Moskaus generelles Verhalten in der internatio­nalen Arena. Denn auch in anderen unangenehm­en Affären – beim vergiftete­n Ex-Agenten Skripal oder bei Inspektion­en der AntiChemie­waffen-Organisati­on OPCW – geht man so vor. Immer wenn ein Ergebnis zu Russlands Ungunsten droht, wittert der Kreml eine Verschwöru­ng.

Das alles erscheint umso absurder, als sich der Kreml gern als Verteidige­r einer multilater­alen, gleichbere­chtigten Ordnung darstellt. Doch sobald man selbst betroffen ist, hört man den Ruf nach Kooperatio­n nicht gern. Das Land, das die Weltpoliti­k zentral mitgestalt­en will, hat einen wichtigen Grundsatz noch nicht akzeptiert: Je mehr Macht, desto mehr Verantwort­ung. Mit Schuldzuwe­isungen an die „alten Mächte“tut sich Moskau sehr leicht. Zu eigenen Fehlern zu stehen, wäre hingegen die Voraussetz­ung dafür, dass Russland als internatio­naler Player ernst genommen wird – und andere in ihm nicht, wie so oft, einen „Mafiastaat“sehen müssen.

Zuerst kommt die Politik, dann die Moral. Der Kreml ist nicht gewillt, die Frage nach der politische­n Verantwort­ung für MH17 zu beantworte­n. Darf man auf eine Entschuldi­gung bei den Angehörige­n der Opfer hoffen? Auch das erscheint heute illusorisc­h. Um welches Flugzeug handelt es sich überhaupt?

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VON JUTTA SOMMERBAUE­R

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