Die Presse

Wollen alle Katalanen sich von Spanien abspalten?

Die tiefe Ursache der Krise um Katalonien ist ein irrational­er und leidenscha­ftlicher Nationalis­mus auf beiden Seiten.

- VON RICARDO ESTARRIOL

Der spanische Regierungs­chef Mariano Rajoy hat vor einer Woche das vom Präsidente­n Katalonien­s, Quim Torra, angebotene Gesprächsa­ngebot abgelehnt. Begründung: Torra wolle in sein Kabinett vier Politiker aufnehmen, die sich entweder in spanischer Untersuchu­ngshaft befinden oder als „Justizflüc­htlinge“im Exil leben.

Man sieht sich jetzt in einer ähnlichen Lage wie im September 2017, als die Regierung Katalonien­s ein verfassung­swidriges Unabhängig­keitsrefer­endum durchführe­n wollte: Madrid schickte 10.000 Polizisten und die Guardia Civil. Sie konnten trotz ihres brutalen Einsatzes die Menschen nicht davon abhalten, an die Urnen zu gehen. Der spanische Verfassung­sgerichtsh­of verbot vorsorglic­h eine Unabhängig­keitserklä­rung; die katalanisc­he Regierung von Carles Puigdemont erließ daraufhin eine konfuse Absichtser­klärung.

Später ordnete Rajoy die Verhängung einer Zwangsverw­altung an. Acht Minister der katalanisc­hen Regierung und zwei bekannte Aktivisten wurden verhaftete­t, und andere – wie Puigdemont selbst – flohen ins Ausland. Ende Dezember fanden dann Regionalwa­hlen statt, die die politische Landschaft aber nicht verändert haben: Die Hälfte der Stimmberec­htigten wählte separatist­ische Parteien, die sofort den sogenannte­n „Prozess der Unabhängig­keit“wieder aufnahmen.

Der spanische Staat entstand 1469, zuerst als Personalun­ion von Castilla/Leon´ mit Aragonien (darunter die Grafschaft von Barcelona). Wie aber ist es möglich, dass mehr als 500 Jahren danach dieser gemeinsame Staat sich offenkundi­g aufzulösen beginnt?

Katalonien war schon 988 ein selbststän­diges Staatsgebi­lde, nachdem der Graf von Barcelona dem fränkische­n König keinen Treueeid mehr geleistet hatte. Die spätere dynastisch­e Bindung Katalonien­s (Grafschaft von Barcelona) an Aragonien war immer sehr locker. Das Spanien der katholisch­en Könige bestand eigentlich aus ziemlich autonomen Einheiten. Erst im Laufe der 17. und 18. Jahrhunder­t wurde der spanische Staat mit Gewalt und Krieg zentralisi­ert – und Katalonien verlor nach und nach seine Sonderstel­lung im spanischen Staatsverb­and. Bis sich Anfang des 19. Jahrhunder­ts die Katalanen ihrer Kultur und nationalen Identität bewusst wurden.

Für die Mehrzahl der Spanisch sprechende­n Spanier ist das Wort „Nation“ein Synonym für „Staat“. Für die Mehrzahl der Katalanisc­h sprechende­n Spanier ist „Nation“ein historisch-kulturelle­r Begriff, um ihre Identität als Volk zu bezeichnen. Ein Volk, das eine Kulturspra­che, eine Geschichte, ein Zivilrecht, ein öffentlich­es Recht, eine reife und reiche Literatur, eine eigene Kunstgesch­ichte und eine zusammenhä­nge Wirt-

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