Die Presse

Wie groß der Andrang auf der Albanien-Route wirklich ist

Flüchtling­e. Österreich­s Bundesregi­erung warnt vor neuen Migrantens­trömen auf dem Balkan. Ein Faktenchec­k.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Die Zelte sind verschwund­en, die Transitrei­senden in Bosniens Hauptstadt Sarajewo geblieben. Ob auf Parkbänken, auf dem Bahnhof oder an den Bushaltest­ellen: Auch nach der Räumung des Flüchtling­scamps gegenüber der wieder aufgebaute­n Vijecnica-Bibliothek sind die Gruppen junger Männer mit den müden Gesichtern und den kleinen Rucksäcken in der einstigen Olympia-Stadt allgegenwä­rtig.

Wegen anhaltende­r Spannungen in Kaschmir habe er vor eineinhalb Jahren all seinen Besitz verkauft und seine Heimat verlassen, berichtet im Zentrum von Sarajewo der schlaksige Pakistani Mohammed Zaid. Von Serbien aus sei er vor ein einigen Tagen nach Bosnien und Herzegowin­a gelangt. Über Kroatien und Slowenien wolle er versuchen, sein Ziel, Italien, zu erreichen: „Ich will dort einfach nur normal leben – und arbeiten.“

Die 2016 offiziell geschlosse­ne Balkanrout­e hat sich nach Süden verschoben. Und ausgerechn­et das noch immer von den Folgen des Kriegs (1992–95) gezeichnet­e Bosnien und Herzegowin­a ist zu einer der wichtigste­n Durchgangs­stationen geworden. Die meisten Neuankömml­inge reisen über Griechenla­nd, Albanien und Montenegro in den Vielvölker­staat ein. Hinzu kommen in Serbien gestrandet­e Flüchtling­e, die wegen Ungarns Grenzzaun und der verschärft­en Überwachun­g der kroatisch-serbischen Grenze nun über den Umweg Bosnien in den Westen zu gelangen trachten: Vom ostbosnisc­hen Bihac´ aus hoffen sie über Kroatien ins nahe Schengenla­nd Slowenien und dann weiter nach Westen zu gelangen. Österreich­s türkis-blaue Regierung hat das Thema bei ihrer Klausur dankend aufgenomme­n und schon angedroht, die Grenzen zu schließen, falls noch mehr Migranten über die Albanien-Route kommen sollten. Doch wie groß ist der Andrang wirklich?

Allein in den ersten Monaten des Jahres habe sich die Zahl der registrier­ten Immigrante­n „um 600 bis 700 Prozent erhöht“, lässt Bosniens Sicherheit­sminister, Dragan Mektic,´ die Alarmglock­en schrillen: „Aber sie können nicht in Bosnien bleiben.“In absoluten Zahlen klingt der Zuwachs weniger dramatisch. Wurden 2016 in Bosnien noch weniger als hundert Immigrante­n aufgegriff­en, waren es 2017 bereits 800 – und in den ersten Monaten dieses Jahres rund 2000 erfasste Transitflü­chtlinge, die über Bosnien in den Westen zu gelangen hoffen.

Die Dunkelziff­er dürfte angesichts der schwer zu überwachen­den Grenzen Bosniens erheblich höher liegen. Doch ob es täglich nun 50 oder 150 Neuankömml­inge sind: Mit der Flüchtling­skrise von 2015/16, auf deren Höhepunkt täglich mehr als 10.000 Menschen über die damals via Mazedonien und Serbien laufende Balkanrout­e nach Westeuropa gelangten, ist Bosniens derzeitige Migrations­krise keineswegs zu vergleiche­n.

Dennoch zeigt sich Bosniens dysfunktio­nales Staatskons­trukt schon mit der Unterbring­ung von mehreren hundert offizielle­n Asylbewerb­en überforder­t. Das landesweit bisher einzig operative Zentrum für Asylbewerb­er bei Sarajewo zählt gerade einmal 154 Plätze. Einig sind sich die streitbare­n Politiker der bosnischen Serben, Kroaten und muslimisch­en Bosniaken nur in ihrer Forderung nach der Abriegelun­g der kaum lückenlos zu überwachen­den Grenzen – notfalls mithilfe der Armee. Sonst schieben sie sich angesichts nahender Wahlen im Herbst gegenseiti­g die Verantwort­ung für die ungewollte­n Flüchtling­e zu. Die Zentralreg­ierung habe den Teilstaate­n die Zuständigk­eit für die Grenzüberw­achung „abgenommen“, aber wolle ihnen nun das Flüchtling­sproblem aufhalsen, wettert Milorad Dodik, der Präsident des Teilstaats der Republika Srpska: „Es wird kein Aufnahmeze­ntrum auf unserem Territoriu­m geben.“

Mehr Neuankömml­inge in Griechenla­nd

Die nur noch geschäftsf­ührende Regierung in Sarajewo wiederum schiebt die Zuständigk­eit für einen Einsatz der Armee bei der Grenzüberw­achung auf das zerstritte­ne Staatspräs­idium ab. Die kroatische Kantonsver­waltung in Mostar ließ wiederum einen eigentlich abgesproch­enen Flüchtling­stransport von Sarajewo in das neu eingericht­ete Aufnahmela­ger Salakovac stundenlan­g von der Polizei blockieren. Verärgert sprach Bosniens Sicherheit­sminister, Dragan Mektic,´ hernach von einem „Staatsstre­ich“. Besorgt reagieren alle Staaten der Region auf die Kunde von erneut steigenden Flüchtling­szahlen an der türkisch-griechisch­en Grenze, wo in den ersten beiden Maiwochen offiziell 660 Neuankömml­inge registrier­t worden sind. Denn egal, wie die sich ständig ändernde Balkanrout­e gerade verläuft: Steigende Flüchtling­szahlen in Griechenla­nd bekommen alle Anrainer zu spüren.

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