Im Herzland der Erdo˘gan-Partei rumort es
Türkei. Die AKP gibt sich selbstsicher. Doch im Osten hat auch die Nationalistin Aksener Zulauf.
Der ältere Herr mit dem akkurat gestutzten, kurzen Bart rechnet vor: 2000 Lira erhält er Pension, davon gehen allein 400 an den studierenden Sohn. „Zu Hause sind wir nun zu dritt“, sagt er, die Finger erhebend. Nach Abzug der Miete, Lebensmittel, dieses und jenes bleibe nicht nur nichts übrig, sondern eine Reihe von Notwendigkeiten, die er sich in der heutigen ökonomischen Lage in der Türkei nicht mehr leisten könne. Wenn es nach ihm geht, sind die Tage der regierenden AKP gezählt. Er nickt, sich selbst zustimmend, während er das sagt, dabei gehört der Pensionist zur klassischen Wählerklientel der AKP: religiös, konservativ, im anatolischen Herzland zu Hause, wo die Regierungspartei nie böse Wahlüberraschungen erleben musste; selbst einen, für Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ typischen Karoblazer trägt er.
Aber er habe immer schon nationalistisch gewählt, sagt der Pensionist, die AKP fand er allenfalls sympathisch. Und nun wird er die neu gegründete Partei der Nationalistin Meral Aksener wählen, für die AKP hege er nur mehr Groll.
Erdogan˘ hat die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei überraschend vorgezo- gen. Das hat einen hektischen Wahlkampf ausgelöst. Unter anderem erhoffte sich die hervorragend organisierte AKP dadurch einen Startvorteil. Statt Mitte 2019 wird am 24. Juni gewählt, aber die Lira befindet sich im Sinkflug, und die Regierung gerät in Erklärungsnot – zumal gerade jetzt, im Fastenmonat Ramadan, die Lebensmittelpreise ohnehin ein wenig höher liegen. Im Herzland rumort es.
In der Mittagssonne der gleichnamigen Hauptstadt der Provinz Elazig, 700 Kilometer östlich von Ankara, sitzt der Herr mit Bart und Blazer im kleinen, verglasten Wahlbüro der IYI Partisi von Aksener. Für die Partei hat er Unterschriften gesammelt und sich in den lokalen Vorstand wählen lassen. Seinen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Stattdessen sagt er: „Wir hatten hier 15 Fabriken. Heute sind sie entweder geschlossen oder in privater Hand. Bis auf die Zuckerfabrik, aber die wird auch nicht überleben.“
Die IYI-Partei werde in Elazig reüssieren, davon zeigt er sich überzeugt. Reüssieren heißt: Mindestens einen Abgeordneten stellen. Die von Elazig in das Parlament entsandten Vertreter – im türkischen System hängt diese Zahl von der Bevölkerungsgröße ab – waren seit Gründung der AKP von der AKP. Fünf Vertreter werden es diesmal sein, und dass ein Gutteil von ihnen wieder der Regierungspartei angehören wird, ist wahrscheinlich.
Die Spaltung der Nationalisten wird aber in den konservativen Regionen nicht spurlos an der AKP vorübergehen. In Elazig war zwar die Regierungspartei immer die Nummer eins, aber die ultranationalistische MHP die Nummer zwei. Nachdem sich der MHP-Chef, Devlet Bahceli,¸ der AKP angebiedert hatte, stürzte die Partei in eine schwere Krise, und Aksener nahm den Gutteil der Mitglieder in ihre neue Partei mit. „Nur sie kann das Erbe von Alparslan Türkes¸ vertreten“, sagt der Herr mit Blick auf den ultranationalistischen Parteigründer. Heruntergebrochen auf Elazig heißt das: Die verbliebene MHP wählt eher AKP, der nationalistische Großteil Aksener.
Unweit des IYI-Büros befindet sich, am zentralen Platz der Stadt mit Springbrunnen und freiem Internetzugang, das MHP-Büro. Es hat zu, mitten im Wahlkampf. Die Jugendlichen und Pensionisten haben sich träge auf den überschaubaren Platz verteilt, im Fastenmonat geht alles langsamer als sonst.
Zwei junge Frauen mit Kopftuch unterhalten sich angeregt. Wen sie wählen werden? Sie wissen es noch nicht. Normalerweise AKP, „aber schauen Sie Sermin Balik an. Vor dem Wahlkampf hat sie noch kein Kopftuch getragen, jetzt wirbt sie damit. Wie glaubwürdig ist das?“
Balik, die energische AKP-Kandidatin mit festem Handdruck, befindet sich ein paar Straßen weiter im AKP-Wahlbüro und geht mit ihren Mitarbeitern das Tagespro- gramm durch. Für ein Gespräch sei leider keine Zeit, lässt sie ausrichten. Der Büroleiter sagt freundlich, ohne Zustimmung der Zentrale könne man Journalisten keine offiziellen Statements geben.
Was hier trotz Finanzkrise und politischer Turbulenzen zu spüren ist, ist die Selbstsicherheit der Regierungspartei. Die Männer im Wahlbüro sagen, Erdogan˘ habe aus der Türkei ein Land auf der Überholspur gemacht. Es gebe jetzt gute Straßen und einen Flughafen in Elazig. Die Lira-Krise sei von den „Feinden der Türkei“konstruiert worden. An den negativen Dingen sei nicht Erdogan˘ schuld.
In diesem konservativen Herzstück der Türkei, scheint es, muss mehr passieren als Lira-Verfall und Post-Putsch-Säuberungen, damit sich die Bevölkerung von dem Mann abwendet, der ihnen Stärke und religiöses Selbstbewusstsein gegeben hat.