„Schengen ist für Terroristen der Himmel“
Interview. Der israelische Antiterror-Experte Boaz Ganor hält Europas offene Grenzen für ein Risiko. Er ist sich sicher: Der IS und die al-Qaida planen derzeit einen großen Anschlag.
Die Presse: Europa war in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von Terrorangriffen. Was ist Ihrer Meinung nach derzeit die größte Gefahr für Europa? Boaz Ganor: Die größte Gefahr für Europa besteht in einem seiner Grundwerte: Menschen können sich im Schengen-Raum frei bewegen, ohne sich identifizieren zu müssen. Das ist der Himmel für Terroristen.
Müssen wir uns in Österreich Sorgen machen? Das Schengen-Abkommen hat natürlich eine große Bedeutung für Europa. Aber wir müssen die Probleme darin erkennen. Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Österreichs Sicherheit ist von anderen EU-Mitgliedstaaten abhängig. Ist ein Terrorist einmal im Schengen-Raum, kann er sich frei bewegen.
Rechnen Sie mit einem Anschlag in Österreich? Auch für Österreich besteht ein ernst zunehmendes Risiko. In einer offenen Gesellschaft wie Österreich gibt es unendlich viele Anschlagsziele. Hier in Wien gibt es viele schöne offene Plätze. Als Experte sehe ich hier viele potenzielle Ziele für Terroristen. Man kann aber nicht alle öffentlichen Orte schützen. Der Umstand, dass es in Österreich in den vergangenen Jahren keinen Anschlag gab, könnte die Wachsamkeit reduzieren. Viele glauben, nur weil hier noch nichts passiert ist, sind sie sicher. Das stimmt aber nicht.
Zuletzt verübten Einzeltäter Anschläge ohne große Vorbereitung. Sind solche Attentate überhaupt zu verhindern? Das ist eine sehr problematische Entwicklung. In der Vergangenheit brauchte man verschiedenste Fähigkeiten, um einen Terroranschlag zu planen. Sicherheitsbehörden konnten in dieser Vorbereitungszeit oft schon eingreifen. Heute benötigt man nur noch ein Messer, eine Axt oder ein Auto. Theoretisch kann es also jederzeit und überall zu einem Anschlag kommen. Diese ständige Bedrohung kann man einfach nicht mehr verleugnen. Warum setzte sich dieser Trend in Europa erst so spät durch? Dieser Trend basiert hauptsächlich auf Propaganda im Internet. Wir analysieren die sozialen Netzwerke von Jihadistengruppen und lesen ihre Nachrichten. Der sogenannte Islamische Staat (IS) und die al-Qaida veröffentlichen Propagandamagazine, die jeder im Internet herunterladen kann. In diesen Bro- schüren findet man Anleitungen für die Planung und Ausführung von Anschlägen. Theoretisch gibt es also eine riesige Zahl von Menschen, die diese Art von Angriffen durchführen könnten.
Wie gefährlich sind die IS-Rückkehrer? Darüber bin ich sehr besorgt. Die Zahl der zurückkehrenden IS-Kämpfer ist zwar limi- tiert, aber es ist nicht schwierig, mit einer falschen Identität nach Europa zu kommen. Viele von ihnen wollen jedoch gar nicht nach Europa zurückkehren, sondern in anderen Krisenregionen weiterkämpfen.
Im Schatten des IS breitete sich zuletzt auch al-Qaida wieder aus. Wie stark ist diese Terrorgruppe im Moment? Lange Zeit war al-Qaida das Zentrum der negativen Energie. Dann kamen die IS-Terroristen und verdrängten al-Qaida, weil sie für die jungen Leute interessanter waren. Derzeit beobachten wir, dass der IS aus der Mode kommt und al-Qaida weltweit wieder an Zulauf gewinnt.
Glauben Sie, dass Terroristen der beiden Gruppen derzeit einen großen Anschlag planen? Die aktuelle Situation ist sehr gefährlich. Der schwächelnde IS will zeigen, dass er noch nicht ganz von der Bildfläche verschwunden ist, und al-Qaida versucht, zu alter Stärke zurückfinden. Ich bin mir sicher, dass beide Gruppen derzeit größere Anschläge planen.