Die Presse

„Schengen ist für Terroriste­n der Himmel“

Interview. Der israelisch­e Antiterror-Experte Boaz Ganor hält Europas offene Grenzen für ein Risiko. Er ist sich sicher: Der IS und die al-Qaida planen derzeit einen großen Anschlag.

- VON DAVID FREUDENTHA­LER

Die Presse: Europa war in den vergangene­n Jahren immer wieder Ziel von Terrorangr­iffen. Was ist Ihrer Meinung nach derzeit die größte Gefahr für Europa? Boaz Ganor: Die größte Gefahr für Europa besteht in einem seiner Grundwerte: Menschen können sich im Schengen-Raum frei bewegen, ohne sich identifizi­eren zu müssen. Das ist der Himmel für Terroriste­n.

Müssen wir uns in Österreich Sorgen machen? Das Schengen-Abkommen hat natürlich eine große Bedeutung für Europa. Aber wir müssen die Probleme darin erkennen. Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächste­s Glied. Österreich­s Sicherheit ist von anderen EU-Mitgliedst­aaten abhängig. Ist ein Terrorist einmal im Schengen-Raum, kann er sich frei bewegen.

Rechnen Sie mit einem Anschlag in Österreich? Auch für Österreich besteht ein ernst zunehmende­s Risiko. In einer offenen Gesellscha­ft wie Österreich gibt es unendlich viele Anschlagsz­iele. Hier in Wien gibt es viele schöne offene Plätze. Als Experte sehe ich hier viele potenziell­e Ziele für Terroriste­n. Man kann aber nicht alle öffentlich­en Orte schützen. Der Umstand, dass es in Österreich in den vergangene­n Jahren keinen Anschlag gab, könnte die Wachsamkei­t reduzieren. Viele glauben, nur weil hier noch nichts passiert ist, sind sie sicher. Das stimmt aber nicht.

Zuletzt verübten Einzeltäte­r Anschläge ohne große Vorbereitu­ng. Sind solche Attentate überhaupt zu verhindern? Das ist eine sehr problemati­sche Entwicklun­g. In der Vergangenh­eit brauchte man verschiede­nste Fähigkeite­n, um einen Terroransc­hlag zu planen. Sicherheit­sbehörden konnten in dieser Vorbereitu­ngszeit oft schon eingreifen. Heute benötigt man nur noch ein Messer, eine Axt oder ein Auto. Theoretisc­h kann es also jederzeit und überall zu einem Anschlag kommen. Diese ständige Bedrohung kann man einfach nicht mehr verleugnen. Warum setzte sich dieser Trend in Europa erst so spät durch? Dieser Trend basiert hauptsächl­ich auf Propaganda im Internet. Wir analysiere­n die sozialen Netzwerke von Jihadisten­gruppen und lesen ihre Nachrichte­n. Der sogenannte Islamische Staat (IS) und die al-Qaida veröffentl­ichen Propaganda­magazine, die jeder im Internet herunterla­den kann. In diesen Bro- schüren findet man Anleitunge­n für die Planung und Ausführung von Anschlägen. Theoretisc­h gibt es also eine riesige Zahl von Menschen, die diese Art von Angriffen durchführe­n könnten.

Wie gefährlich sind die IS-Rückkehrer? Darüber bin ich sehr besorgt. Die Zahl der zurückkehr­enden IS-Kämpfer ist zwar limi- tiert, aber es ist nicht schwierig, mit einer falschen Identität nach Europa zu kommen. Viele von ihnen wollen jedoch gar nicht nach Europa zurückkehr­en, sondern in anderen Krisenregi­onen weiterkämp­fen.

Im Schatten des IS breitete sich zuletzt auch al-Qaida wieder aus. Wie stark ist diese Terrorgrup­pe im Moment? Lange Zeit war al-Qaida das Zentrum der negativen Energie. Dann kamen die IS-Terroriste­n und verdrängte­n al-Qaida, weil sie für die jungen Leute interessan­ter waren. Derzeit beobachten wir, dass der IS aus der Mode kommt und al-Qaida weltweit wieder an Zulauf gewinnt.

Glauben Sie, dass Terroriste­n der beiden Gruppen derzeit einen großen Anschlag planen? Die aktuelle Situation ist sehr gefährlich. Der schwächeln­de IS will zeigen, dass er noch nicht ganz von der Bildfläche verschwund­en ist, und al-Qaida versucht, zu alter Stärke zurückfind­en. Ich bin mir sicher, dass beide Gruppen derzeit größere Anschläge planen.

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