„Wir müssen uns verteidigen können“
Interview. Europa sei für Schuldenkrisen jetzt gerüstet, sagt Juncker-Berater Rainer Münz.
Die Presse: Kann man jungen Menschen die EU heute noch als Friedensprojekt erklären? Rainer Münz: Für die Jugend von heute, für meine Kinder und ihre Altersgenossen, ist der Zweite Weltkrieg so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg oder der Untergang des Weströmischen Reiches. Das sind Ereignisse aus dem Geschichtsbuch. Deswegen muss das Projekt EU an diesem Punkt neu definiert werden. Es geht heute darum, dass der Wohlstand und die Lebensform der Menschen in Europa bewahrt werden. Dazu müssen wir uns vor bestimmten Bedrohungen beschützen.
Die da wären? Es gibt militärische, asymmetrische Bedrohungen, etwa den Terrorismus. Es gibt Bedrohungen, die auf einer regulatorischen Ebene kommen. Etwa, indem unsere Standards nicht mehr anerkannt werden. Das untergräbt die Fähigkeit Europas zur Normsetzung, und wir können unsere eigene Produktion nicht mehr eins zu eins in der Welt absetzen. Es gibt immer auch die Perspektive militärischer Bedrohungen. Da schlagen wir einen Weg in Richtung von stärker integrierten Armeen in Europa vor. Wir müssen uns verteidigen können – unser Lebensmodell und unseren Wohlstand.
Wie hat die Eurokrise Europa verändert? Die Eurokrise hat relativ bald Auswirkungen gehabt, wie etwa die Gründung des ESM, der eine Vorstufe zum Europäischen Währungsfonds ist. Auch werden heute mehr als hundert systemisch relevante Banken von einer europäischen Aufsicht kontrolliert und nach einheitlichen Kriterien beurteilt. Die Finanzkrise wurde ursprünglich aus den USA impor- tiert, aber hat uns bei hausgemachten Schwächen auf dem falschen Fuß erwischt. Da ging es um zu gering kapitalisierte Banken, die Frage der Überschuldung der EU-Staaten und in einigen Ländern Europas auch um einen überhitzten Immobilienmarkt.
Sind wir auf neue Krisen jetzt besser vorbereitet? Wir können Schuldenkrisen kleiner und mittlerer EU-Staaten jetzt durch einen geregelten Mechanismus abfangen statt durch Ad-hocMaßnahmen. Im Fall von Griechenland wurden ja im Mai 2010 von einigen EU-Staaten Ad-hocKreditlinien eingerichtet, um das Land vor dem Staatsbankrott zu retten. Über Nacht. Das war eine Notsituation. Da sind wir heute besser aufgestellt. Auch die Europäische Zentralbank hat Maßnahmen ergriffen, die vorher nur in theoretischen Aufsätzen diskutiert worden sind: etwa der massive Aufkauf europäischer Staatsanleihen oder Negativzinsen.
Was waren die Lehren aus der Migrationskrise? Während der Migrationskrise haben etliche Politiker gesagt, Europa habe versagt. Aber hier muss man die Kompetenzfrage stellen. Der Euro ist eindeutig eine europäische Angelegenheit, bei der die EZB und die EU-Kommission über klare Zuständigkeiten verfügen,
will laut ihrem Vorschlag für das nächste Budget mehr Geld in Grenzschutz und Verteidigung stecken – und weniger in Landwirtschaft. Der Migrationsexperte Rainer Münz, der seit 2015 die Juncker-Kommission berät, hat das Budget am Montag bei einem Workshop im Wiener Institut für Höhere Studien vorgestellt. Münz war vor seinem Engagement in Brüssel als Chef der Forschung bei der Erste Group tätig. die nicht national definiert sind. Bei der Frage, wer als Nicht-EUBürger in einen EU-Staat einwandern darf, wer Asyl bekommt und wer wieder nach Hause geschickt wird, gibt es fast ausschließlich nationalstaatliche Kompetenzen. Die EU-Kommission stellt keine Visa aus, kann keine Aufenthaltstitel, kein Asyl gewähren und niemanden in die Heimat schicken. Das verringert extrem den Brüssler Handlungsspielraum. In der akuten Krisensituation waren die Erwartungen an die EU erheblich größer als die Möglichkeiten, die ihr von den Mitgliedsstaaten in den Verträgen eingeräumt werden.
Jetzt schlägt die Kommission auch vor, die Ausgaben für den Grenzschutz drastisch zu erhöhen. Ist das eine Reaktion? Unsere Idee ist, dass wir nur dort mehr Geld in die Hand nehmen sollten, wo wir auch einen gemeinsamen Mehrwert erzeugen. Die Integrität der Schengen-Zone zu erhalten und den Schutz der Außengrenzen zu stärken, das erzeugt unserer Meinung nach solchen Mehrwert. Nur so kann man sich innerhalb des SchengenRaums bewegen, das gilt für Personen und Güter. Zugleich müssen Staaten mit einer Außengrenze besser unterstützt werden.
Wie wird die EU den Brexit im Budget verkraften? Wir wissen noch nicht genau, wie sich der Brexit ausgestaltet. Im Maximalfall werden zehn bis 14 Mrd. Euro im EU-Budget fehlen. Aber wenn Großbritannien mit der EU assoziiert bleibt, dann würden wir wie von Norwegen und der Schweiz auch von Großbritannien einen Beitrag zum künftigen EU-Budget verlangen.