„Theater ist Skulptur in Bewegung“
Interview. Bei den Festwochen zeigt Gis`ele Vienne ein Stück über Raves und Rituale: Ein Gespräch über bastelnde Eltern, harfespielende Bauern und die Lust am Orchestrieren.
In ihrem Stück „Crowd“schickt Gis`ele Vienne 15 junge Leute auf die Bühne. Was dort geschieht, erinnert an die ersten Raves Anfang der 1990er-Jahre, an aktuelle Clubkultur und archaische Rituale. „Es ist eine Mischung aus Tanz und Theater, sehr narrativ, obwohl man keinen Text hört. Es ist ein dichtes Bild, das einen mit zu viel Informationen richtiggehend überwältigt. Und genau das ist Teil des Genusses“, sagt die Choreografin. Sie hat dafür Strukturen von Ritualen in Afrika, Hawaii und Indonesien erforscht und bemerkt, wie ähnlich einander diese feierlichen Handlungen oft sind. „Mich interessiert, was die Bedürfnisse der jungen Leute sind. Was suchen sie bei solchen Parties, die zwölf oder 24 Stunden dauern können? Sie wollen sich ja nicht nur besaufen und Drogen nehmen, sondern suchen tiefere Erfahrungen in sich selbst.“Es sei „mein Stück, das am meisten Leute anspricht“, weiß Vienne (Premiere war im November), „denn es ist extrem emotional, physisch, sinnlich und freudvoll“.
Sich mit Ritualen und Selbsterfahrung zu beschäftigen, passt zu Vienne, die auch Philosophie studiert hat. Aber erst kam die Harfe. „Ich habe schon mit sechs Jahren angefangen. Harfe ist zwar kompliziert zu lernen, klingt aber ziemlich schnell schön.“In die Ferien nach Österreich – die Mutter stammt aus Saalfelden, der Vater aus Frankreich (er heißt tatsächlich Vienne, „alle glauben, das ist ein Künstlername“) – habe sie das Instrument nicht mitgebracht. „Aber ich konnte im Salzburger Land immer bei den Bauern Harfe spielen. Das war sehr interessant, denn in Frankreich ist die Harfe eher ein bourgeoises Instrument.“Auch ihre dritte Profession verdankt sie der Mutter, einer Bildhauerin: das Puppentheaterspiel. „Es ist nicht so, dass ich als Kind im Puppentheater war. Aber in den Ferien in Österreich gab es gute Animationsfilme aus der Tschechei im Fernsehen, die habe ich gesehen.“Daraus sei ihr Interesse entstanden: „Skulptur und Bewegung haben mich schon als junges Mädchen interessiert“, sagt sie. „Mit zehn oder elf habe ich Jean Tinguely entdeckt und war beeindruckt: Animation und Skulptur – das hat mich zum Tanz und zum Theater gebracht. Für mich ist Theater noch immer Skulptur in Bewegung.“
Später lernte sie an einer Figurentheaterschule. Die Eltern, erzählt Vienne, hätten wenig Geld gehabt – und anstatt ein neues Möbelstück zu kaufen, habe die ganze Familie eines gebastelt. „Ich habe kaum mit Puppen gespielt – wir haben aber gemalt und gebaut, Bühnenbilder für die Puppen zum Beispiel.“Derzeit arbeitet sie an einer Miniserie für Arte, in der eine solche Puppe eine Hauptrolle spielt: „Es geht um die Tochter eines berühmten Bauchredners. Der Vater ist längst tot, und sie lebt mit der Puppe des Vaters, die sie als Bruder betrachtet, zusammen. Das ist eine fiktive Geschichte, aber inspiriert von Bauchredner Edgar Bergen, dessen Puppe Charlie und seiner Tochter, die von den Medien als Charlies ,Schwester‘ bezeichnet wurde.“Das Buch zur Arte-Serie ist fertig. „Das Schöne am Figurentheater wird auch in dieser Serie ganz stark spürbar sein: Man kann vom absurden Grotesken bis zum Metaphysischen gehen.“
„Ich arbeite aber hauptsächlich auf der Bühne mit Schauspielern und Tänzern. Ich habe mit Choreografie und Regie viel Freude, weil mir Tanz und Theater erlauben, visuell, musikalisch, philosophisch, literarisch und choreografisch zu arbeiten.“Die Natur ihrer Kunst sei sehr multidisziplinär, sagt Vienne. „Mein längstes Studium ist ja die Musik, und ich denke manchmal, ich mache Kompositionen – als wäre das Licht ein Instrument, als wären der Körper, der Text, das Bühnenbild ein Instrument. Das Herrliche am Film, am Theater, am Tanz ist, dass ich das Ganze orchestriere.“Sie sei „jeden Tag dankbar, dass ich als Künstlerin arbeiten kann“, sagt Vienne – auch wenn die Bedingungen immer schwieriger werden. „Ich mag es gern – aber man muss es aushalten können.“