Die Presse

Warum erst bei uns das Gehirn so groß wurde

Biologie. Die Verdopplun­g eines zuständige­n Gens kam früh, blieb aber bei Schimpanse­n und Gorillas folgenlos. Erst bei unseren Ahnen konnte sie ihre Macht entfalten: Sie bremst die Entwicklun­g des Gehirns und versorgt es im Gegenzug mit mehr Zellen.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wir sind die Großkopfer­ten der Evolution, auch wenn umstritten ist, ob schieres Volumen Intelligen­z bringt oder die innere Organisati­on: Die kleinen Gehirne von Rabenvögel­n etwa leisten Großes. Aber staunen lässt schon, dass unser Gehirn so viel mehr Volumen hat als das unserer Cousins, der Schimpanse­n. Bei ihnen sind es 450 Kubikzenti­meter, bei uns 1200 – es schwankt individuel­l stark –, der große Schub kam vor drei Millionen Jahren mit Homo erectus.

Wodurch kam er, auf der molekulare­n Ebene? Weil sich bei den Teilen des Genoms, die für die Produktion von Proteinen zuständig sind, kaum Differenze­n zwischen Menschen und Schimpanse­n gefunden haben, konzentrie­rt man sich auf die Teile, die andere Gene regulieren. Dabei sind nun zwei Gruppen auf einen zentralen Spieler gestoßen, er gehört zum Notch-Signalweg, der ist uralt, regelt in der Embryogene­se die Ent- wicklung vieler Körperteil­e, bei Fruchtflie­gen etwa die der Flügel, denen verschafft er eine Kerbe („Notch“), man merkte es 1917, in den 80er-Jahren wurde die Sequenz geklärt.

Auch die Entwicklun­g des Gehirns ist von Notch mitbestimm­t, und beim Menschen kann etwas fehllaufen: Wir haben auf Chromosom 1 lange DNA-Segmente, die auch verdoppelt oder stillgeleg­t sein können, in beiden Fällen bringen sie Fehlentwic­klungen, man fasst sie unter „1q21.1 deletion/duplicatio­n syndrome“zusammen: Sind sie stillgeleg­t, werden die Gehirne zu klein („Mikrozepha­lie“) und von Autismus bedroht; im umgekehrte­n Fall werden sie übergroß und haben ein erhöhtes Risiko von Schizophre­nie. In dieser Region hat David Haussler (UC Santa Cruz) im Vergleich von Makaken und Menschen nun eine spezifisch menschlich­e Variante von Notch identifizi­ert: Notch2nl (Cell 31. 5.).

Auf die Primaten kam diese bei einem gemeinsame­n Ahnen von Mensch, Schim- panse und Gorilla durch eine Verdopplun­g des Gens Notch2, das haben alle Säugetiere. Aber die Verdopplun­g brachte zunächst nichts – die Gehirne von Schimpanse­n und Gorillas blieben klein –, die Kopie war funktionsu­nfähig, ein Pseudogen. Das änderte sich erst beim Menschen, vor drei bis vier Millionen Jahren, da wurde das Pseudogen im Zuge neuer Verdopplun­gen aktiv.

Geringeres Tempo garantiert Größe

Diese griffen in die Entwicklun­g von Gehirnstam­mzellen dadurch ein, dass sie sie verzögerte­n: Aus jeder dieser Stammzelle­n wurden bei der Teilung nicht zwei ausdiffere­nzierte Zellen, nur eine der Töchter war das, die andere war wieder eine Stammzelle, das hat Pierre Vanderhaeg­en (Brüssel) gerade an Organoiden gezeigt, Minigehirn­en in der Petrischal­e (Cell 31. 5.).

Das bringt das Gehirn langsamer voran, schafft aber auf Dauer einen viel größeren Pool von Zellen: „Zu den Charakteri­stika des Menschen gehören größere Gehirne und eine verzögerte Gehirnentw­icklung. Und nun sehen wir molekulare Mechanisme­n, die diesen evolutionä­ren Trend in sehr frühen Stadien der Entwicklun­g unterstütz­en“, schließt Haussler und vermutet, dass sich noch ähnliche Gene finden werden.

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