Freskos fürs Volk
Film. Auf dem Papier fügt sich die Doku „Augenblicke: Gesichter einer Reise“nahtlos ins Programmkinoschema F. Doch auf der Leinwand hebt sie sich ab, dank ihres Künstlerprotagonistenpaars: Filmemacherin Agn`es Varda und Street-Artist JR.
Ein ungleiches Paar macht aus „Augenblicke: Gesichter einer Reise“etwas Besonderes: Filmemacherin Agn`es Varda und Fotograf JR tingeln durchs Hinterland.
Ein bisschen drollig sieht es schon aus, wenn die Filmemacherin Agn`es Varda und der Fotograf JR Seite an Seite stehen. Sie, die hochbetagte „Großmutter der Nouvelle Vague“, in buntem Aufzug und mit goldbrauner Topffrisur, stets ein warmes, altersweises, aber aufgewecktes Lächeln im gefältelten Gesicht, reicht ihrem Gegenüber gerade einmal bis zum Schulteransatz. Er, der hippe Knipser und Street-Artist, schlank und vergleichsweise hochgeschossen, stets einen Filzhut auf dem kahl geschorenen Kopf und die Sonnenbrille im kantigen Antlitz, könnte Vardas Enkel sein. Ein mustergültiges „Odd Couple“, dessen Ähnlichkeit im künstlerischen Zugang liegt: Beide interessieren sich für Menschen abseits des Rampenlichts, beide sind neugierig und verspielt, beide lieben „visages“und „villages“.
„Visages Villages“heißt auch der Dokumentarfilm, den das ungleiche Paar zusammen gemacht hat. Vergangenes Jahr hatte er beim Filmfestival in Cannes Premiere, bei den Oscars war er in der Doku-Kategorie nominiert, nun startet er in Österreich unter dem eher prosaischen Titel „Augenblicke: Gesichter einer Reise“(der englische Titel immerhin: „Faces Places“). Konzeptuell fügt er sich nahtlos ins Programmkinoschema F: Jung und Alt tingeln durchs gallische Hinterland und lernen dabei etwas über Land, Leute und sich selbst. Doch die Persönlichkeiten der beiden Regisseure/Protagonisten verleihen dem Film eine Eigenart, die ihn auf erfreuliche Weise über den Genussreisekino-Durchschnitt hinaushebt.
Spezialbus mit Fotokabine
Da wäre schon einmal die Grundidee, die Varda und JR in possierlichen Spielszenen am Frühstückstisch austarieren: In einem Spezialbus mit Fotokabine im Laderaum fahren sie durch die französische Provinz. Bei Bedarf spuckt die Fahrzeugflanke großformatige Bilder aus, die sich an Wänden und Mauern plakatieren lassen. Orten und Menschen, die den Porträtisten gefallen, set- zen sie so temporäre 2-D-Denkmäler. Meist sind es dezidiert „einfache“Leute: die letzte Bewohnerin einer abrissreifen Minenarbeitersiedlung, ein technologieaffiner Bauer, ein malerisch begabter Briefträger. Imposant prangen ihre riesenhaften Schwarz-WeißAbbilder auf Häuserfassaden, eindrucksvolle Volksfreskos für jedermann. Die Künstler fragen immer nach, was die Verewigten von der Sache halten: Manche sind stolz, andere zu Tränen gerührt. Eine schüchterne Kellnerin fühlt sich als plötzlicher „Star“unangenehm exponiert. Nur die Ziege, deren Konterfei eine Scheune veredelt, bleibt stumm.
So kristallisiert sich ein lebhafter Katalog ländlicher Gesichter, Geschichten, Dialekte heraus. Weiters ein Kompendium faszinierender Lokalitäten: Das an der Normandie- Küste gelegene Phantomdorf Pirou-Plage, ein windiger Sandstrand in Saint-Aubin-surMer. Und ein Verständnis von Kunst als Hinwendung zur Welt, als gemeinschaftsstiftende Kulturtechnik.
So viel Fröhlichkeit nervt fast
Zuweilen mutet „Visages Villages“wie eine Kreuzung aus Vardas Ährenleser-Doku „Les glaneurs et la glaneuse“und JRs berühmten Porträtstrecken an – sicher kein Zufall. Natürlich hat das auch etwas von Eigenwerbung: Das Künstlerduo als Politikergespann auf Wahlkampftour. Beide können immer gut mit allen, ziehen sich neckisch gegenseitig auf, suhlen sich in Rustikalromantik. Doch gerade als die ganze Fröhlichkeit beginnt, einem auf die Nerven zu fallen, schal- tet der Film einen Gang zurück ins Persönlich-Melancholische.
Beim Besuch der bescheidenen Grabstätte von Henri Cartier-Bresson in Montjustin kommt die Rede auf den Tod. Sie denke oft an ihn, meint Varda. Angst habe sie noch keine, sie freue sich eher drauf. Warum? „Parce que ce sera fini“, weil es dann vorbei sein wird. Fortan führt der Weg des Films auch durch Erinnerungsgefilde. Und irgendwann, überraschend, nach Genf, wo Vardas alter Bekannter Jean-Luc Godard zurückgezogen lebt. Dass aus dem erhofften Wiedersehen nichts wird, könnte „Visages Villages“eine bittere Note verleihen. Doch die zwei Reisenden verwahren sich dagegen, wie es ihnen eigen ist: mit einer kleinen, simplen, spielerisch-poetischen Geste.