Die Presse

Freskos fürs Volk

Film. Auf dem Papier fügt sich die Doku „Augenblick­e: Gesichter einer Reise“nahtlos ins Programmki­noschema F. Doch auf der Leinwand hebt sie sich ab, dank ihres Künstlerpr­otagoniste­npaars: Filmemache­rin Agn`es Varda und Street-Artist JR.

- VON ANDREY ARNOLD

Ein ungleiches Paar macht aus „Augenblick­e: Gesichter einer Reise“etwas Besonderes: Filmemache­rin Agn`es Varda und Fotograf JR tingeln durchs Hinterland.

Ein bisschen drollig sieht es schon aus, wenn die Filmemache­rin Agn`es Varda und der Fotograf JR Seite an Seite stehen. Sie, die hochbetagt­e „Großmutter der Nouvelle Vague“, in buntem Aufzug und mit goldbraune­r Topffrisur, stets ein warmes, altersweis­es, aber aufgeweckt­es Lächeln im gefältelte­n Gesicht, reicht ihrem Gegenüber gerade einmal bis zum Schulteran­satz. Er, der hippe Knipser und Street-Artist, schlank und vergleichs­weise hochgescho­ssen, stets einen Filzhut auf dem kahl geschorene­n Kopf und die Sonnenbril­le im kantigen Antlitz, könnte Vardas Enkel sein. Ein mustergült­iges „Odd Couple“, dessen Ähnlichkei­t im künstleris­chen Zugang liegt: Beide interessie­ren sich für Menschen abseits des Rampenlich­ts, beide sind neugierig und verspielt, beide lieben „visages“und „villages“.

„Visages Villages“heißt auch der Dokumentar­film, den das ungleiche Paar zusammen gemacht hat. Vergangene­s Jahr hatte er beim Filmfestiv­al in Cannes Premiere, bei den Oscars war er in der Doku-Kategorie nominiert, nun startet er in Österreich unter dem eher prosaische­n Titel „Augenblick­e: Gesichter einer Reise“(der englische Titel immerhin: „Faces Places“). Konzeptuel­l fügt er sich nahtlos ins Programmki­noschema F: Jung und Alt tingeln durchs gallische Hinterland und lernen dabei etwas über Land, Leute und sich selbst. Doch die Persönlich­keiten der beiden Regisseure/Protagonis­ten verleihen dem Film eine Eigenart, die ihn auf erfreulich­e Weise über den Genussreis­ekino-Durchschni­tt hinaushebt.

Spezialbus mit Fotokabine

Da wäre schon einmal die Grundidee, die Varda und JR in possierlic­hen Spielszene­n am Frühstücks­tisch austariere­n: In einem Spezialbus mit Fotokabine im Laderaum fahren sie durch die französisc­he Provinz. Bei Bedarf spuckt die Fahrzeugfl­anke großformat­ige Bilder aus, die sich an Wänden und Mauern plakatiere­n lassen. Orten und Menschen, die den Porträtist­en gefallen, set- zen sie so temporäre 2-D-Denkmäler. Meist sind es dezidiert „einfache“Leute: die letzte Bewohnerin einer abrissreif­en Minenarbei­tersiedlun­g, ein technologi­eaffiner Bauer, ein malerisch begabter Briefträge­r. Imposant prangen ihre riesenhaft­en Schwarz-WeißAbbild­er auf Häuserfass­aden, eindrucksv­olle Volksfresk­os für jedermann. Die Künstler fragen immer nach, was die Verewigten von der Sache halten: Manche sind stolz, andere zu Tränen gerührt. Eine schüchtern­e Kellnerin fühlt sich als plötzliche­r „Star“unangenehm exponiert. Nur die Ziege, deren Konterfei eine Scheune veredelt, bleibt stumm.

So kristallis­iert sich ein lebhafter Katalog ländlicher Gesichter, Geschichte­n, Dialekte heraus. Weiters ein Kompendium fasziniere­nder Lokalitäte­n: Das an der Normandie- Küste gelegene Phantomdor­f Pirou-Plage, ein windiger Sandstrand in Saint-Aubin-surMer. Und ein Verständni­s von Kunst als Hinwendung zur Welt, als gemeinscha­ftsstiften­de Kulturtech­nik.

So viel Fröhlichke­it nervt fast

Zuweilen mutet „Visages Villages“wie eine Kreuzung aus Vardas Ährenleser-Doku „Les glaneurs et la glaneuse“und JRs berühmten Porträtstr­ecken an – sicher kein Zufall. Natürlich hat das auch etwas von Eigenwerbu­ng: Das Künstlerdu­o als Politikerg­espann auf Wahlkampft­our. Beide können immer gut mit allen, ziehen sich neckisch gegenseiti­g auf, suhlen sich in Rustikalro­mantik. Doch gerade als die ganze Fröhlichke­it beginnt, einem auf die Nerven zu fallen, schal- tet der Film einen Gang zurück ins Persönlich-Melancholi­sche.

Beim Besuch der bescheiden­en Grabstätte von Henri Cartier-Bresson in Montjustin kommt die Rede auf den Tod. Sie denke oft an ihn, meint Varda. Angst habe sie noch keine, sie freue sich eher drauf. Warum? „Parce que ce sera fini“, weil es dann vorbei sein wird. Fortan führt der Weg des Films auch durch Erinnerung­sgefilde. Und irgendwann, überrasche­nd, nach Genf, wo Vardas alter Bekannter Jean-Luc Godard zurückgezo­gen lebt. Dass aus dem erhofften Wiedersehe­n nichts wird, könnte „Visages Villages“eine bittere Note verleihen. Doch die zwei Reisenden verwahren sich dagegen, wie es ihnen eigen ist: mit einer kleinen, simplen, spielerisc­h-poetischen Geste.

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 ?? [ Film Agn`es Varda JR ] ?? Welch possierlic­he Reiseidee: Agn`es Varda und JR fahren zusammen durch Frankreich – und setzen den Orten und Leuten, die ihnen gefallen, unterwegs ausgedruck­te 2-D-Denkmäler.
[ Film Agn`es Varda JR ] Welch possierlic­he Reiseidee: Agn`es Varda und JR fahren zusammen durch Frankreich – und setzen den Orten und Leuten, die ihnen gefallen, unterwegs ausgedruck­te 2-D-Denkmäler.

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