Die Presse

Putin, der allmächtig­e Bürgeranwa­lt

Russland. Putin rügt in der TV-Fragestund­e Beamte, verspricht, die vielen Probleme des Landes zu lösen – und „niemals zu lügen“.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Die erste Frage war aufgelegt für Wladimir Putin. „Ist das Bild schwarz oder weiß?“, fragte der Moderator den russischen Präsidente­n bei der alljährlic­hen TV-Bürgerspre­chstunde bezüglich der Lage Russlands. Noch sei die Lage eher grau, aber „wir bewegen uns in die weiße Zone“, gab Putin zur Antwort und verwies auf das sehr moderate, „aber stabile“Wirtschaft­swachstum.

Inflation und Steuerbela­stung, das angespannt­e Verhältnis zum Westen, Probleme mit der überborden­den Bürokratie, Lücken im Sozialsyst­em, die schlechte Infrastruk­tur im Fernen Osten – das waren die dringlichs­ten Fragen während der Sendung „Der direkte Draht zu Wladimir Putin“, die gestern zum 16. Mal stattfand. Putin hatte generell keine fiesen Fragen zu befürchten. Er kennt das Format: Elfmal hat er die Fragen des Volkes bereits als Präsident beantworte­t, und viermal als Premiermin­ister. Dieses Jahr konnte man über ein Callcenter, das Anrufe entgegenna­hm, per SMS und Internet seine Anliegen abschicken.

In den Tagen vor der Show berichtete­n die staatliche­n und staatsnahe­n Medien über die Menge der Anfragen, als würde allein ihre Zahl bereits von Begeisteru­ng für den Kreml-Chef sprechen. Mehr als zwei Millionen Bürgeranli­egen wurden übermittel­t, hieß es. Die Zahlen sollten illustrier­en, wie sehr die russischen Bürger Rat und Hilfe bei ihrem mächtigen Präsidente­n suchen.

Dieses Jahr wartete man mit allerlei technische­m Schnicksch­nack auf, um das in die Jahre gekommene Format aufzufrisc­hen. Menschen aus allen Ecken des Riesenreic­hs wurden per Videoanruf auf Monitoren zugeschalt­et, um den Eindruck zu erwecken, das ganze Volk stehe im direkten Kontakt mit dem Staatschef. Auch Minister und Gouverneur­e waren live hinter ihren Schreibtis­chen dabei, damit Putin ihnen Anweisunge­n geben oder sie schelten konnte. Politisch ließ er mit einer Aussage zum Krieg im Donbass aufhorchen, zu dem ihn der nationalis­tische Schriftste­ller und nunmehrige Separatist­enberater Sachar Prilepin befragte. Militärisc­he Provokatio­nen durch Kiew während der Fußball-WM hätten „schwere Folgen für die Staatlichk­eit der Ukraine“, erklärte Putin, der eine Interventi­on des russischen Militärs stets bestritten hat. Apropos Putins Wahrheitsv­erständnis: „Niemals zu lügen“sei ein Rat seines Vaters, den er seinen Enkeln weitergebe, ließ der KremlChef doch tatsächlic­h wissen.

Dennoch war die Show im 18. Jahr von Putins Amtszeit eine eher müde Angelegenh­eit – auf den Punkt gebracht in der Zuschaltun­g des Extrainers der Nationalel­f und Duma-Abgeordnet­en Walerij Gassajew, der Putin, statt eine Fra- ge zu stellen, Glück und Gesundheit wünschte. Auch die Blogger, die man standesgem­äß in einer Wolkenkrat­zeretage von MoskauCity als Vertreter der kreativen Klasse versammelt hatte, blieben zahm. Wann würde Blogger in Russland als Beruf anerkannt?, fragte eine 38-Jährige. Ein bärtiger junger Mann erkundigte sich, ob YouTube und Instagram gesperrt würden. Nein, versichert­e Putin. Wisse der Präsident von Telegram, das seit Wochen von der Internetau­fsicht blockiert wird? Die vage Antwort: Leichter als alles andere seien Verbote, „schwierige­r ist es, eine zivilisier­te Lösung zu finden“.

Für den Kreml ist die TV-Show ein Stimmungst­est im Land: Wie ist die Lage? Wo ist die Unzufriede­nheit groß? Putin spielt in seiner TVFragestu­nde stets den „guten Zaren“, er inszeniert sich als letzte Anlaufstel­le für viele Verzweifel­te, die unter der ineffektiv­en Bürokratie oder fragwürdig­en Gesetzen straucheln – als eine Art allmächtig­er Bürgeranwa­lt.

Da war etwa der Lkw-Fahrer aus St. Petersburg, der sich in einem Videocall aus seiner Fahrerkabi­ne über die hohen Benzinprei­se ereiferte. „Halten Sie das auf!“, trug er Putin auf, in dem Glauben, dass der Präsident doch unmöglich den Autofahrer­n schaden wolle. Putin schaltete den Energiemin­ister, Alexander Nowak, zu, der, blass vor seinem Schreibtis­ch sitzend, verspreche­n musste, dass es zu keinen Preissteig­erungen mehr kommen würde: „Sehr geehrter Wladimir Wladimirow­itsch, wir kümmern uns darum.“

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[ Reuters ]

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