Die Presse

Ein getöteter Soldat, viele „Zufälle“

Mordprozes­s. Der Rekrut, der im Oktober einen Kameraden im Wachdienst mit dem Sturmgeweh­r getötet hatte, stand wegen Mordes vor Gericht. Und sprach von einem Unfall.

- VON MANFRED SEEH

„Meine türkischen Kameraden haben mich ,Jumbo‘ genannt, das hat mir aber nichts ausgemacht.“Das sagt Ali Ü. (22) am Donnerstag seiner Richterin. Diese erwähnt nämlich dezent, dass Ü. relativ korpulent ist. Das tut sie, weil sie auf Motivsuche ist. Hat es für den Bundesheer-Rekruten Ali Ü. einen Grund gegeben, seinen Kameraden Ismail M. (20) zu erschießen? War es ein Mord aus gekränkter Ehre? Oder war es ein Unfall?

Tag 1 im viel beachteten Mordprozes­s um den Todesschus­s in einem Wachcontai­ner der Albrechtsk­aserne in Wien-Leopoldsta­dt: Am 9. Oktober 2017 starb dort der Wachsoldat Ismail M. durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe. Die Tatwaffe: das Standardge­wehr des österreich­ischen Bundesheer­es, das Sturmgeweh­r (StG) 77. Sowohl der Schütze als auch das Opfer waren als Grundwehrd­iener zum Wachdienst ein- geteilt gewesen. Gab es nun zwischen den beiden jungen Männern – beide mit türkischen Wurzeln – eine Fehde? „Nein, wir waren befreundet“, gibt der Angeklagte zu Protokoll. Ismail M. habe ihn auf Türkisch manchmal sogar „Schatzi“genannt. „Wir haben uns einfach Kosenamen gegeben.“

Ein Zeuge, ein Mithäftlin­g, dem sich Ü. anvertraut haben soll, sagt indessen, der ehemalige Rekrut habe mit dem später Getöteten befreundet sein wollen, was letzterer aber nicht zuließ. Hier hakt auch Staatsanwa­lt Georg Schmid-Grimburg ein. „Bei Kapitalver­brechen gibt es oft kein erkennbare­s Motiv.“Manchmal heiße es lapidar: „Ich habe mich an diesem Tag schlecht gefühlt. Es hätte jeden treffen können.“Damit spielt der Ankläger auf die Rechtferti­gung jenes 16-Jährigen an, der vor Kurzem ein siebenjähr­iges Mädchen in einem Wiener Gemeindeba­u erstochen hat. Schmid-Grimburg setzt nach: „Oft ist es auch gekränkte Ehre. In einem Moment bricht alles heraus.“

Verteidige­r Manfred Arbacher-Stöger sieht die Assoziatio­n mit dem Gemeindeba­u-Mord als eine Art Foul des Staatsanwa­ltes. Und kontert heftig: „Ich kann aus der Anklage nicht ein Mindestmaß an einem Motiv herauslese­n. Ein perfiden Mordplan gibt der Gerichtsak­t einfach nicht her.“Es sei schlimm, dass ein Mensch gestorben sei. „Aber wir sind nicht beim Moralgeric­ht. Wir sind beim Strafgeric­ht.“Ali Ü. habe keinerlei Mordvorsat­z gehabt. „Es war ein Unfall.“Ein Unfall als Resultat einer „blöden Aneinander­reihung von Zufällen“.

Und von diesen „Zufällen“gibt es in der Tat einige. Ü. sagt: „Ich bin gestolpert.“– „Wie?“, will Richterin Eva Brandstett­er wissen. „Nach vorne“, antwortet Ü. wenig aussagekrä­ftig. „Vielleicht bin ich über meine eigenen Füße gestolpert. Vielleicht war ein Schuhbandl offen.“Im Stolpern müsse er dann versehentl­ich den Abzug des Sturmgeweh­rs betätigt haben – ob er das StG umgehängt hatte, wisse er nicht mehr, so der Angeklagte. Jedenfalls habe er M. nur holen wollen, um mit ihm eine Zigarette zu rauchen. Dass er bei Betreten des Ruheraums die Waffe bei sich hatte, sei – zugegeben – ein Verstoß gegen die Vorschrift­en gewesen.

Feststeht, dass das Opfer auf einer Liege in der Ruhekoje des Containers lag, als der Schuss fiel. Der Staatsanwa­lt versteht nicht, wie man in einem kleinen Container, gleich nachdem man die Türe zu der Ruhekoje geöffnet hat, einfach aus dem Nichts stolpern kann. Und ergänzt: „Selbst wenn man das glaubt, passiert genau nichts.“Denn das Gewehr hätte vorschrift­smäßig „halbgelade­n“sein müssen, das heißt: 30-Schuss-Magazin angesteckt, aber nicht durchgelad­en.

Die Waffe könne sich durch ein vorheriges Herunterfa­llen quasi selbst geladen ha-

LEXIKON: MORD, FAHRLÄSSIG­KEIT

Vorsatztat. Wird der Angeklagte wegen Mordes verurteilt, also wegen der vorsätzlic­hen Tötung eines Menschen, droht entweder eine zeitlich befristete Haftstrafe, nämlich zehn bis zwanzig Jahre Gefängnis oder (je nach Schwere der Tat) eine lebenslang­e Sanktion.

Unfall. Wer hingegen fahrlässig einen Menschen tötet, ist „nur“mit bis zu einem Jahr Haft oder mit einer Geldstrafe zu bestrafen. Wer grob fahrlässig tötet, kann maximal drei Jahre Haft bekommen. ben, wendet die Verteidigu­ng ein. Versuche, bei denen das StG aus eineinhalb Metern fallen gelassen wurde, bestätigen dies. Aber: Wenn das StG nicht entsichert ist, kann noch immer kein Schuss fallen. Da hat wiederum der Angeklagte Ü. eine Antwort: „Ich habe immer mit der Sicherung gespielt, wenn ich beim Wachdienst draußen war. Das war der einzige Zeitvertre­ib.“

Und wie war das mit dem Hinunterfa­llen der Waffe? Hätte man dies nicht unverzügli­ch melden müssen? Doch. „Aber wir haben es nicht gemeldet, wenn die Waffe runtergefa­llen ist.“Warum nicht? Wäre die Waffe beschädigt worden, „hätten wir sie aus eigener Tasche bezahlen müssen“. Und wenn die etwaige Beschädigu­ng die Waffe unbrauchba­r gemacht hätte? „Wir haben gewusst, mit den Waffen wird nie geschossen, die sind praktisch nur als Dekoration da.“

Also Mord oder ein Unfall als Resultat einer „blöden Aneinander­reihung von Zufällen“? Wobei der letzte der vielen „Zufälle“ebenfalls vom Staatsanwa­lt erwähnt wird. Nämlich die traurige Tatsache, dass das Geschoß genau in den Kopf des auf der Liege ruhenden jungen Soldaten eindrang. Dieser war sofort tot.

Das Urteil soll kommenden Donnerstag (14. Juni) verkündet werden.

Einmal habe ich durch das Zielfernro­hr des Sturmgeweh­rs die Damen am Laufband im gegenüber der Kaserne liegenden Fitnesscen­ter beobachtet.“ Der Angeklagte auf die Frage, ob er das Sturmgeweh­r auch vorschrift­swidrig verwendet habe. Oft wird eine Anklage überzogen. Kürzlich wurde aus einer Mordversuc­hs-Anklage im Urteil nur Nötigung. Man wollte ein Hochhaus und bekam ein Einfamilie­nhaus. Verteidige­r Manfred Arbacher-Stöger über die seiner Ansicht nach verfehlte Mordanklag­e.

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