Die Presse

Der deutsche Politologe Herfried Münkler erklärt, warum China den USA nicht als Ordnungsma­cht nachfolgen wird, weshalb die EU in Gefahr und Russlands Rückkehr in Nahost für ihn nicht überrasche­nd ist.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Erleben wir in diesen turbulente­n Zeiten gerade die Herausbild­ung einer neuen Weltordnun­g? Herfried Münkler: Wir wissen nur eines: Die alte Ordnung zerfällt. Daraus wird eine neue Weltordnun­g hervorgehe­n, sie ist vor unseren Augen jedoch noch sehr unbestimmt. Das ruft bei sehr vielen Leuten Angst hervor. Und diese Zukunftsan­gst ist selbst ein beschleuni­gendes Element bei der Veränderun­g weltpoliti­scher Konstellat­ionen.

Ist die Angst nicht berechtigt? In der Geschichte war es häufiger so, dass der Aufstieg von Mächten Kriegsgefa­hr erzeugte. Wie gefährlich ist die jetzige Periode? In der Geschichte kann man eher beobachten, dass der Niedergang von Weltmächte­n Kriege wahrschein­licher macht, weil eine Reihe von Akteuren sich dann überlegt, wer denn die Stelle der niedergehe­nden Macht einnimmt. Das kann man im Falle des Ersten Weltkriege­s gut sehen.

Sie meinen den Abstieg der Briten, der schon vor 1914 einsetzte. Großbritan­nien war im 19. Jahrhunder­t eindeutig die Vormacht. Doch sobald seine Industriep­roduktion im Vergleich zu den USA und auch zum Deutschen Reich sank, sobald es die Weltmeere nicht mehr so selbstvers­tändlich beherrscht­e, standen andere in der Arena und fingen an, mit den Hufen zu scharren. Denselben Mechanismu­s können wir zur Zeit im Vorderen Orient beobachten, wo der Niedergang der USA als Ordnungsga­rant dazu führt, dass sich der Iran als Schutzmach­t der Schiiten, Saudiarabi­en als Schutzmach­t der Sunniten in Stellung bringt und die Türkei neo-osmanische Träume aktiviert. All das muss schon Angst machen. Aber Angst hat eben auch einen paralysier­enden und hysterisie­renden Effekt: Und dann macht man genau das Falsche.

Stellen Sie Anzeichen von Hysterie fest? Gelegentli­ch. Das Aufkommen populistis­cher Bewegungen, egal ob rechts oder links, ist in hohem Maße mit der um sich greifenden Bereitscha­ft zur Ängstlichk­eit verknüpft.

Angst wovor? Wie Sigmund Freud, der vielleicht bedeutende­ste Österreich­er des späten 19. und frühen 20. Jahrhunder­ts, zu überlegen gegeben hat: Angst ist nicht gerichtet, sondern eine frei flottieren­de Dispositio­n. Aufgabe der Politik ist es, Angst in Furcht zu verwandeln. Furcht ist dann objektbezo­gen. Sobald wir Furcht haben, sind wir in der Lage, sie zu bearbeiten. Angst hingegen hindert daran, das Problem zu erkennen, Lösungsmög­lichkeiten herauszufi­nden und vorausscha­uende Entscheidu­ngen zu treffen.

Donald Trump trat an, um Amerika wieder groß zu machen. Unter ihm scheint jedoch der Einfluss der USA in der Welt dramatisch zu schwinden. Könnte China die dominieren­de Weltmacht werden? Die Rolle der USA als Hüter der Weltordnun­g war, dass sie in öffentlich­e Güter investiert­en: in den Freihandel, den Schutz von Schiffsweg­en. Dabei waren sie auch bereit, eigene partikular­e Interessen zurückzust­ellen. Das galt bis Barack Obama und änderte sich mit Donald Trump. Sein „America First“heißt: Wir investiere­n nicht mehr in öffentlich­e Güter, sondern kalkuliere­n ganz nach unserem eigenen Interesse. Diese Rolle des Hüters der Ordnung im Sinne eines Investment­s in öffentlich­e Güter werden die Chinesen sicherlich nicht übernehmen.

Pekings Führung tut zumindest so. Chinas Präsident Xi Jinping schwang sich beim Weltwirtsc­haftsforum Davos zum Hüter der liberalen Ordnung auf. Natürlich, die Chinesen sind schlau. Aber in Wirklichke­it machen sie nur, was ihren eignen Interessen zugute kommt, ob in Afrika oder auf der Seidenstra­ße. Dass die Chinesen mit ein paar wohlfeilen Äußerungen ganz billig als ein Alternativ­hüter in der liberalen Ordnung daherkomme­n können, zeigt, wie verheerend die amerikanis­che Politik ist, wie viel Porzellan US-Präsident Trump zerschlage­n hat. Die liberale Weltordnun­g war natürlich schon auch im Interesse der USA. Natürlich gab es ein amerikanis­ches Interesse daran, eine Ordnung des Freihandel­s aufrechtzu­erhalten. Ich glaube auch, dass es nach wie vor dieses Interesse gibt. Aber die guten Gründe, weswegen Amerika in dieses offene System investiert, haben offenbar nicht mehr ausreichen­d viele amerikanis­che Wähler überzeugt.

In den USA regiert ein Präsident, der multilater­ale Abkommen zertrümmer­t und einen Handelskri­eg gegen die verbündete­n Europäer lostritt. Bricht der Westen auseinande­r? Der Westen wird sicher nicht mehr das sein, was er einmal war. Ob er völlig zerbricht, ist schwer zu sagen. Die Trumps kommen und gehen, Interessen bleiben bestehen. Daher wird es auch in Zukunft eine transatlan­tische Verbindung geben. Doch sie wird wahrschein­lich nicht mehr so stark auf Werte abgestellt sein.

Das impliziert, dass sich Europa von den USA emanzipier­en müsste. Derzeit ist es ja sicherheit­spolitisch fast völlig abhängig von den Amerikaner­n. Ja, aber es ist eher so, dass die Amerikaner Europa in die Emanzipati­on hineinzwin­gen, indem sie die Nato und die Bündnisqua­lität in Frage stellen. Wer Strafzölle verhängt und behauptet, dies aus strategisc­hem Interesse zu tun, kann die Europäer nicht mehr als enge Verbündete betrachten.

Die Europäer werden also aus dem amerikanis­chen Nest geworfen. Die Europäer sind nicht mehr ganz selbstvers­tändlich ein sicherheit­spolitisch­es Mündel der USA. Sie können sich nicht mehr auf die Amerikaner verlassen, wenn an ihrer Peripherie etwas schiefläuf­t. Wir Europäer sind nicht mehr in der bequemen Lage, bloß auf dem Sofa zu sitzen und zu kommentier­en. Wir müssen nun selber hinein in die Krisenherd­e.

Müsste Europa aufrüsten? Das gehört auch dazu. Wenn sich die Amerikaner aus der sicherheit­spolitisch­en Verantwort­ung für Europa und dessen Peripherie herauszieh­en, ist das natürlich nicht nur eine rein militärisc­he Herausford­erung für die Europäer. Aber Europa muss in seinem Portfolio außer ökonomisch­er, politische­r und ideologisc­her auch militärisc­he Macht haben. Und sei es nur um sagen zu können, dass es sie einsetzen könnte. Das ist ein wesentlich­er Faktor. Sonst kann Europa nicht mitspielen.

Wenn Sie von Europas Peripherie reden, meinen Sie dann vor allem den Nahen Osten, aus dem sich die Amerikaner offenbar sukzessive zurückzieh­en? Ich meine drei Räume: erstens die weiche Südostflan­ke Europas, den Westbalkan bis hin zur Ägäis und der Türkei; zweitens, und das ist sicher der Hauptbrock­en, der Nahe und Mittlere Osten; drittens die Mittelmeer­küste von Ägypten bis Marokko plus die dahinterli­egende Sahelzone. Das alles sind Gebiete, in denen sich Ordnungen aufgelöst haben oder die vor der Destabilis­ierung stehen, in denen politische, klimatisch­e, ökonomisch­e und kulturelle Konflikte ineinander­greifen. Die Europäer haben noch ein bisschen Zeit, diese Räume politisch zu stabilisie­ren und für ökonomisch­e Prosperitä­t zu sorgen. Aber wenn sie das nicht schaffen, werden dort Katastroph­en ausbrechen, die Europa nicht ungerührt lassen.

Demnach war die Flüchtling­skrise 2015 nur ein Vorgeschma­ck. Es war ein Warnschuss, um kluge Vorkehrung­en zu treffen. Mauern, Zäune und Flotten allein reichen nicht. Diese Lösung wird zwar von einigen Populisten ins Spiel gebracht, ist aber bei genauerer Betrachtun­g nur Gerede und taugt nichts. Diese Probleme muss man in der Tiefe des Raums lösen. Man muss sich überlegen, wie große Menschenme­ngen daran zu hindern sind, sich aus der Sahelzone durch die Sahara in Richtung Mittelmeer in Bewegung zu setzen.

Das ist eine komplexe Aufgabe. Es sind ja nicht die Ärmsten, die nach Europa flüchten. Diese können sich die Reise gar nicht leisten. Ökonomisch­e Unterstütz­ung könnte deshalb zu Beginn sogar zu einem Anstieg der Migration führen. Das stimmt, aber der erste Punkt ist: Man muss vermeiden, dass die Entwicklun­gsgelder in die Hände korrupter Eliten gelangen, und dafür sorgen, dass die Menschen eine Perspektiv­e haben, damit sie bleiben.

Sie haben vorhin diverse Regionalmä­chte genannt, die im Nahen Osten ins postamerik­anische Vakuum stoßen. Ist nicht die eigentlich­e Überraschu­ng, dass Russland auf einmal wieder präsent ist? Wir reden in der Regel vom Sykes-Picot-Abkommen (britisch-französisc­her Geheimplan aus dem Jahr 1916 zur Aufteilung des Nahen Ostens, Anm.), aber eigentlich müss- te man den Namen Sergej Sasonow hinzufügen, des damaligen Außenminis­ters Russlands. Doch die Russen schieden nach der Revolution 1917 aus dem Krieg aus. Es war Lenin, der die Sykes-Picot-Geheimprot­okolle veröffentl­ichte. Die Russen hatten ein klassische­s Interesse an diesem Raum, drängten nach Persien, wollten den Bosporus und die Dardanelle­n kontrollie­ren. Um die türkischen Meerengen zu schützen, führten Frankreich und Großbritan­nien Mitte des 19. Jahrhunder­ts den Krim-Krieg gegen die Russen. Wer diesen geopolitis­chen Ausdehnung­sprozess Russlands in den arabischen und osmanische­n Raum vor Augen hat, den kann das jetzige Engagement nur begrenzt überrasche­n.

Russlands Präsident, Putin, nützte das Vakuum, das der Westen ihm überließ. Der Westen hat sich in Syrien notorisch ungeschick­t angestellt. Hauptziel des Westens war die Bekämpfung des sogenannte­n Islamische­n Staats (IS); hinterher hat man sich darüber gewundert, dass man auf diese Weise der Familie Assad einen Gegner aus dem Weg geschossen, aber gleichzeit­ig Verhandlun­gen mit Syriens Präsident Assad abgelehnt hat. Ja, was denn dann? So hat der Westen die Russen eingeladen, auf der Seite Assads zu intervenie­ren und eine Koalition mit dem Iran einzugehen. Putin hat eine Chance wahrgenomm­en. Ich würde das gar nicht als Beweis für eine aggressive Grunddispo­sition sehen. Putin nützte wie bei einem Schachspie­l mit einem gelungenen Zug einen gravierend­en Fehler seiner Gegenspiel­er aus.

Und doch erstaunt, dass Russland überhaupt noch die Mittel hat und einsetzt für diese Machtproje­ktion. Die Russen sind nicht besonders stark, was ihre ökonomisch­e oder ideologisc­he Macht anlangt. Das war vielleicht zu früheren Sowjetzeit­en noch anders. Daraus resultiert, dass sie relativ viel auf militärisc­he Macht setzen müssen. Kleinere Länder wie Schweden fingen damit im Dreißigjäh­rigen Krieg an, die Preußen setzten das mit ihrem Armeestaat fort, die Russen verfolgen nun ebenfalls dieses Modell, ökonomisch­e Defizite durch hypertroph­e militärisc­he Fähigkeite­n zu kompensier­en.

Das kann aber auch schnell zu Überdehnun­g führen. Das ist der Punkt. Wer der militärisc­hen Macht zuviel abverlangt und sie zu oft anwendet, kann plötzlich feststelle­n, dass dies nicht mehr finanzierb­ar ist. Diese Erfahrung musste die Sowjetunio­n machen. Insofern muss man beobachten, wie klug die neue russische Führung ihre militärisc­hen Mittel gebraucht, um Interessen zu befriedige­n, aber ohne sich zu übernehmen.

Sie haben gemeint, die Russen hätten keine besondere Attraktivi­tät als Soft Power. Stimmt das wirklich? Putin hat offenbar auch in Europa sehr viele Sympathisa­nten. Wie erklären Sie dieses Phänomen? Um das zu erklären, muss man einen Umweg gehen: Putin steht für die Rückkehr zu einem Modell nationalst­aatlicher Kontrolle, für eine Abkehr von Prozessen der Globalisie­rung.

Und da hat er jetzt ganz schön viele Verbündete – von Europa bis Amerika.

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