Die innere Wende des Viktor Orb´an
Ausgerechnet der liberale Studentenführer von 1989 führt heute die illiberale Bewegung in Europa an. Wobei: Wie Orb´an hat sich auch die Stimmung in der Bevölkerung gedreht. Was ist da passiert?
Am 16. Juni 1989 taucht er zum ersten Mal in Ungarns Wohnzimmern auf. Also auf den Fernsehbildschirmen dort. Er trägt eine wilde Frisur, Dreitagebart und keine Krawatte. Er sieht also so aus, wie man sich klischeehaft einen liberalen Systemkritiker vorstellt – der er in diesen Tagen auch ist. Und als solcher steht er nun auf einem Podium auf dem Heldenplatz in Budapest und verlangt in einer live übertragenen Rede den Abzug der sowjetischen Besatzer aus Ungarn. Ein Wagnis. Aber es zahlt sich für den jungen Universitätssprecher aus. Die Landsleute nehmen Notiz, erstmals geistert für einen Augenblick sein Name durchs Land: Viktor Orban.´
Knapp drei Jahrzehnte nach seinem ersten großen Auftritt anlässlich der Neubeerdigung des rehabilitierten Nationalhelden Imre Nagy trägt der Jungspund von damals Krawatte. Das Gesicht ist rasiert, das Haar ergraut. Der Zahn der Zeit. Abseits solcher Oberflächlichkeiten drängen sich ganz tiefgreifende Veränderungen auf. In seinen Reden klingt er anders als 1989.
Der junge Orban´ wandte sich gegen den Einfluss der Kirche. Inzwischen hat er privat zum Glauben gefunden und fördert politisch einen klerikal gefärbten Nationalismus. Einst studierte er mit einem George-SorosStipendium in Oxford. Heute redet er von der George-Soros-Verschwörung ( wonach der ungarischstämmige US-Milliardär Soros angeblich Europa mit Migranten überfluten wolle). Orban´ wies als 26-jähriger Redner Moskau die Tür. Heute öffnet er sie für Wladimir Putin. Es gibt noch weitere Brüche in Orbans´ Biografie: Er war in den Neunzigern ein Vizepräsident der internationalen Liberalen und ist heute Europas oberster Verfechter der „illiberalen Demokratie“‘. Aber vor allem ist er mit seinem Sinneswandel nicht allein. Orban´ findet Nachahmer.
Der ehemalige Dissident Janez Jansaˇ zum Beispiel, Sieger ohne Mehrheit der Parlamentswahlen in Slowenien, schlug im Wahlkampf nationalistische Töne an. Er schimpfte über Migranten und angebliche dunkle Kräfte, die sein Land heimlich steuern würden. „Slowenien zuerst!‘, lautete seine Parole. Das gefiel seinem ungarischen Wahlhelfer und Bruder im Geiste. Oder Milosˇ Zeman. Wer in den Archiven kramt, findet Artikel, die den tschechischen Präsidenten als ,sozialliberal‘ einordnen. Heute fällt der starke Mann in der Prager Burg zuvorderst damit auf, gegen Muslime Stimmung und Schlagzeilen zu machen. In Polen, einstmals Aushängeschild unter den neuen EU-Staaten, lösten die autoritäre Züge des Kaczyn´ski-Regimes bekanntermaßen eine Dauerfehde mit Brüssel aus.
Natürlich: Jeder Fall liegt anders, und ein lauter Populismus ist auch in Westeuropa im Vormarsch. Siehe Italien als jüngstes Beispiel. Aber das Dilemma im EU-Osten geht tiefer: „Es breitet sich ein illiberaler Konsens aus“, analysiert Ivan Krastev vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in „Foreign Affairs“. Was ist da passiert?
Die Antwort hat auch mit dem Schicksalsjahr 1989 zu tun und den Erwartungen von damals. Oder genauer: den enttäuschten Erwartungen. Die Menschen träumten Krastev zufolge damals nicht von irgendeiner „Utopie“wie das bei Revolutionen so üblich ist, sondern, viel schlichter, von „Normalität“, also von einem Lebensstandard, wie man im Westen schon länger beobachtet hatte. Als der Grenzbalken hochging, suchten viele das Weite – auch aus der liberalen Schicht (deren Einfluss in Mittelosteuropa ohnehin notorisch überschätzt wurde). Abwanderung und Überalterung schaukelten sich in Teilen des ehemaligen Ostblocks zur „Identitäts- und Demografiekrise“(Krastev) hoch. Ein Phänomen, das zuweilen den wirt- schaftlichen Aufstieg der Region überschattete. Wobei die Lohngefälle noch heute hoch sind. Es grassierte und grassiert jedenfalls das Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“zu sein.
Die sogenannte Nutella-Krise bestärkte es: Im Vorjahr gab es Berichte, wonach die Rezepturen für Lebensmittel im EU-Osten abweichen; Nutella zum Beispiel in Ungarn also schlechter schmecken könnte als in Österreich. In den Medien war von einem „Lebensmittel-Rassismus“zu lesen. Wie auch immer. Mittelosteuropas junge Demokratien sind heute zwar noch immer proeuro- päisch, aber sie sehnen sich zugleich nach autoritären Strukturen und nationaler Abschottung. Es ist dies eine paradoxe Stimmungslage, die Viktor Orban´ früh erspürt und verstärkt hat.
In seiner Karriere hat sich der Berufspolitiker Orban´ zweimal gehäutet. Mindestens. Ein altes Bild zeigt ihn 1990 jugendlich lässig an der Seite von Klara´ Ungar,´ später die erste offen lesbische Politikerin Ungarns. Die beiden sind damals Parteifreunde im Bund junger Demokraten (Fidesz), einer von Orban´ mitgegründeten Bewegung, die heftig und schrill auf marktliberale Reformen und gen Westen drängt. „Wir stimmten in fast jeder Frage überein. Orban´ war damals wirklich durch und durch liberal und sehr aufgeschlossen“, sagt Ungar´ zur „Presse“. Andere frühere Fidesz-Parteifreunde halten Orbans´ Liberalismus dagegen schon damals für „ein bisschen Lack“, den der Machtpolitiker abtragen würde, sobald es nötig würde.
Die erste sanfte Wende leitet Orban´ um das Jahr 1994 ein. Der Jurist baut den Fidesz in eine gemäßigt-konservative Partei nach westeuropäischem Vorbild um. Er besetzt damit den Raum in und rechts der Mitte. Hier war nach dem Niedergang des regierenden Demokratischen Forums ein Plätzchen frei geworden. Der Schachzug ging auf.
Orban´ gewann die Wahlen 1998 und wurde zum Darling und späteren Vizepräsidenten von Europas Christdemokraten. Ungarn zwang er einen Sparkurs auf und führte es in die Nato und an die Schwelle der EU. Es lief gut. Bis zu jenem Tag 2002, an dem ihm dasselbe Schicksal wie allen anderen ungarischen Regierungschefs seit 1990 widerfuhr: Orban´ wurde abgewählt. Denn die Sozialisten hatten im Wahlkampf das Blaue vom Himmel versprochen. Eine politische Nahtoderfahrung, die Orban´ für immer verändert. Darin sind sich alle von der „Presse“befragten ehemaligen Mitstreiter einig. Er wurde danach „radikaler, rechter, populistischer“, sagt Ungar.´ Heute hält sie Orban´ für einen schwer korrupten, „kleinen Putin“. Man grüßt sich nicht mehr.
2008 kehrte Orban´ jedenfalls zurück an die Macht, diesmal in der Gestalt eines Nationalisten. In seinen Reden umarmte er ethnische Ungarn jenseits der Grenzen. Und er warb für die illiberale Demokratie, wähnte Vorbilder in Singapur, China, Russland. „Der liberale Staat garantiert den ungarischen Familien keinen Wohlstand und keinen Schutz der nationalen Interessen mehr“, sagte er 2014.“Oder: Der ungarische Staat werde sich nicht weiter an liberale Werte halten.
Das war eine Ansage, und sie passt zu einer großen Botschaft, an der Orbans´ Fidesz strickt. Der Schutz von Minderheiten erscheint darin als Gefahr für die Mehrheit, die Demokratie westlichen Zuschnitts wehrlos und der EU-Liberalismus als eine Art Eindringling, der Ungarn seiner kulturellen Identität berauben wolle. Eine solche Erzählung verfängt eher in einem Land, das fast immer Spielball fremder Mächte war: der Habsburger, der Osmanen, der Sowjets.
Und dann kam die Flüchtlingskrise. Sie löste, wie Krastev meint, eine „demografische Panik“aus. Und sie schürte eine Angst vor dem Unbekannten, zumal man in den ethnisch meist homogenen Staaten des ehemaligen Ostblocks kaum Erfahrung mit anderen Kulturen gesammelt hatte.
Es schlug Orbans´ große Stunde. 1989 stellte er sich gegen sowjetische Besatzer, diesmal gegen EU-Flüchtlingsquoten. Gegen einen als dekadent empfundenen Westen. Gegen Multikulti. Das kam an. Der Premier eines Zehn-Million-Einwohner-Lands wurde über Nacht zum ersten Gegenspieler der etablierten westlichen Politiker, zum Wortführer eines illiberalen Lagers. Seine Stimme hat auch deshalb Gewicht, weil er das liberale System kennt. Von innen.
Orban´ strotzt heute vor Selbstvertrauen. Im Vorjahr meinte der ehemalige Dissident: „Vor 27 Jahren glaubten wir hier, dass unsere Zukunft in Europa liegt. Heute fühlen wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“