Plato und Mick Jagger: Wenn Mauern wanken
Wie umstürzlerisch ist/war die Rockmusik wirklich? War sie 1968 mehr als Soundtrack? Und was hatte die Punk-Revolte mit der britischen Politik zu tun? Über ein von Allen Ginsberg bearbeitetes Zitat aus der „Politeia“.
Gewiss, Marx wurde ständig zitiert im Jahr 1968, Hegel kam oft zu Wort, Kant bisweilen. Doch auch Plato lag in der revolutionären Luft – beziehungsweise ein Zitat, das ihm zugeschrieben wurde. Das Original steht in der „Politeia“, im vierten Buch: „Man muss sich hüten, eine neue Art von Musik einzuführen, denn dadurch wird alles gefährdet. Denn nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten.“
Allen Ginsberg, Poeta laureatus der Beat Generation, hatte das schon 1961 genial in einen Slogan übersetzt, in dem man die Posaunen vor Jericho zu hören meint: „When the mode of the music changes, the walls of the city shake.“Doch erst 1968 wurde dieser Satz viral. Im Song „When the Mode of the Music Changes“warnte die kabarettistische Rockband The Fugs: „Beware a man who is not moved by sound, he’ll drag you to the ground.“Auch MC5, laut Eigendefinition die „radikalste Band des Planeten“, warb mit dem Plato zugeschriebenen Satz. Dessen zweiten Teil – „The walls of the city shake“– verwendete übrigens der unverschämte Techno-Bricoleur Jason Forrest 2005 als Stücktitel, das klang dann ganz anders.
Aber wie klang die Musik, die die Wände der Stadt respektive die Gesetze des Staates wackeln ließ, im Jahr 1968? Im Soundtrack einschlägiger Dokus kommen meist „Street Fighting Man“von den Rolling Stones – ideal zur rhythmischen Begleitung von Demonstrationen – und „Revolution“von den Beatles vor. Ersteres wirkt recht aufmüpfig, hat aber eine ironische Schlagseite. Im verschlafenen London gebe es keinen Platz für Straßenkämpfer, konstatiert Mick Jagger: „What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band?“Und „Revolution“ist alles andere als ein Aufruf zur Revolution: „Wer Bilder vom Vorsitzenden Mao herumträgt, wird’s damit zu gar nichts bringen“, näselt John Lennon.
Die Alben, auf denen die beiden Songs erschienen sind, „Beggars Banquet“und „The Beatles“(das „weiße Album“) wurden damals eher als ästhetische Rückschritte verstanden: weg von den psychedelischen Experimenten des Jahres 1967, zurück zum gu- ten alten Rock’n’Roll. Und zu den Wurzeln: Blues, Country, Folk, Dancehall. Im Fall von Bob Dylan auch zum Alten Testament, sein 1968er-Album „John Wesley Harding“ist voller Bezüge darauf. Überhaupt war 1968 das erste Jahr, in dem die Popmusik ihre Vergangenheit entdeckte, in dem sie retrospektiv wurde. „Do It Again“, sangen die Beach Boys; die Beatles klangen auf „Lady Madonna“wie Fats Domino; Simon & Garfunkel widmeten sich auf „Bookends“den Erinnerungen und den Stimmen von Pensionisten auf Parkbänken, die Kinks bekannten sich auf „The Kinks Are the Village Green Preservation Society“wert- und strukturkonservativ zu Erdbeermarmelade und Billard, ländlicher Idylle und alten Freunden; die blutjunge Band Jethro Tull verkleidete sich für das Cover ihres ersten Albums, „This Was“, als alte Männer. Nur Jim Morrison hielt mit sei- nen Doors die Jugend hoch: In „Five to One“reduzierte er die Revolte auf ein demografisches Problem: Die Alten werden älter und die Jungen stärker, sang er. „They got the guns, but we got the numbers, gonna win, yeah, we’re taking over!“
Auch der vielleicht größte Umbruch der Popgeschichte, der Punk, wurde zu seiner Zeit von vielen als ästhetischer Rückschritt gesehen: zurück zur Simplizität der frühen Sechzigerjahre, weg von der Gigantomanie von „Dinosauriern“wie Genesis oder Yes. Gewiss, die sloganstarke Band The Clash rief „No Elvis, Beatles or The Rolling Stones in 1977!“, doch ihre Kollegen von The Damned bis The Jam ließen keinen Zweifel daran, in welcher Tradition sie sich sahen.
Der „White Riot“, von dem The Clash 1977 geträumt haben, klingt jedenfalls heute, in Zeiten von „Critical Whiteness“, etwas ranzig. Damals schon spottete ein Kritiker mit der Titelzeile „Bei Schlechtwetter findet der Aufstand im Saal statt“über die revolutionäre Attitüde der Band. Diese hat wohl auch den heute verbreiteten Irrtum gestützt, dass der britische Punk aus dem Aufbegehren gegen konservative Politik entstanden sei: Margaret Thatcher wurde erst 1979 Premierministerin (und schnell zum Feindbild vieler Großer des Postpunk), aber 1976/77, in den Geburtsjahren des Punk, regierte Labour.
So einfach ist das eben nicht mit Pop und Politik. Sondern recht widersprüchlich – wie die Haltung des Sir Michael Jagger, der 1968 in „Salt of the Earth“auf den Toast auf die Arbeiterklasse („Let’s drink to the hard-working people!“) mit der Offenbarung antwortete, dass ihm diese „faceless crowd“ganz unwirklich vorkomme. Der an seinem Kollegen John Lennon – der später davon träumen sollte, ein „working class hero“zu sein – kritisierte, dass dieser nie Marx gelesen habe, selbst aber erklärte: „I am no marxist!“
Wie kitschig der Versuch sein kann, politische Umwälzungen musikalisch zu begleiten, wissen wir von den Scorpions und ihrem „Wind of Change“(1989). Ganz falsch lagen sie freilich nicht: Wenn die Rockmusik je zur Erschütterung einer real existierenden Mauer beigetragen hat, dann war es jene in Berlin. Die Mauer, an der David Bowie die „Heroes“weinen ließ, seine Helden unter Anführungszeichen. Platonische Helden?