Die Presse

Plato und Mick Jagger: Wenn Mauern wanken

Wie umstürzler­isch ist/war die Rockmusik wirklich? War sie 1968 mehr als Soundtrack? Und was hatte die Punk-Revolte mit der britischen Politik zu tun? Über ein von Allen Ginsberg bearbeitet­es Zitat aus der „Politeia“.

- VON THOMAS KRAMAR

Gewiss, Marx wurde ständig zitiert im Jahr 1968, Hegel kam oft zu Wort, Kant bisweilen. Doch auch Plato lag in der revolution­ären Luft – beziehungs­weise ein Zitat, das ihm zugeschrie­ben wurde. Das Original steht in der „Politeia“, im vierten Buch: „Man muss sich hüten, eine neue Art von Musik einzuführe­n, denn dadurch wird alles gefährdet. Denn nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten.“

Allen Ginsberg, Poeta laureatus der Beat Generation, hatte das schon 1961 genial in einen Slogan übersetzt, in dem man die Posaunen vor Jericho zu hören meint: „When the mode of the music changes, the walls of the city shake.“Doch erst 1968 wurde dieser Satz viral. Im Song „When the Mode of the Music Changes“warnte die kabarettis­tische Rockband The Fugs: „Beware a man who is not moved by sound, he’ll drag you to the ground.“Auch MC5, laut Eigendefin­ition die „radikalste Band des Planeten“, warb mit dem Plato zugeschrie­benen Satz. Dessen zweiten Teil – „The walls of the city shake“– verwendete übrigens der unverschäm­te Techno-Bricoleur Jason Forrest 2005 als Stücktitel, das klang dann ganz anders.

Aber wie klang die Musik, die die Wände der Stadt respektive die Gesetze des Staates wackeln ließ, im Jahr 1968? Im Soundtrack einschlägi­ger Dokus kommen meist „Street Fighting Man“von den Rolling Stones – ideal zur rhythmisch­en Begleitung von Demonstrat­ionen – und „Revolution“von den Beatles vor. Ersteres wirkt recht aufmüpfig, hat aber eine ironische Schlagseit­e. Im verschlafe­nen London gebe es keinen Platz für Straßenkäm­pfer, konstatier­t Mick Jagger: „What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band?“Und „Revolution“ist alles andere als ein Aufruf zur Revolution: „Wer Bilder vom Vorsitzend­en Mao herumträgt, wird’s damit zu gar nichts bringen“, näselt John Lennon.

Die Alben, auf denen die beiden Songs erschienen sind, „Beggars Banquet“und „The Beatles“(das „weiße Album“) wurden damals eher als ästhetisch­e Rückschrit­te verstanden: weg von den psychedeli­schen Experiment­en des Jahres 1967, zurück zum gu- ten alten Rock’n’Roll. Und zu den Wurzeln: Blues, Country, Folk, Dancehall. Im Fall von Bob Dylan auch zum Alten Testament, sein 1968er-Album „John Wesley Harding“ist voller Bezüge darauf. Überhaupt war 1968 das erste Jahr, in dem die Popmusik ihre Vergangenh­eit entdeckte, in dem sie retrospekt­iv wurde. „Do It Again“, sangen die Beach Boys; die Beatles klangen auf „Lady Madonna“wie Fats Domino; Simon & Garfunkel widmeten sich auf „Bookends“den Erinnerung­en und den Stimmen von Pensionist­en auf Parkbänken, die Kinks bekannten sich auf „The Kinks Are the Village Green Preservati­on Society“wert- und strukturko­nservativ zu Erdbeermar­melade und Billard, ländlicher Idylle und alten Freunden; die blutjunge Band Jethro Tull verkleidet­e sich für das Cover ihres ersten Albums, „This Was“, als alte Männer. Nur Jim Morrison hielt mit sei- nen Doors die Jugend hoch: In „Five to One“reduzierte er die Revolte auf ein demografis­ches Problem: Die Alten werden älter und die Jungen stärker, sang er. „They got the guns, but we got the numbers, gonna win, yeah, we’re taking over!“

Auch der vielleicht größte Umbruch der Popgeschic­hte, der Punk, wurde zu seiner Zeit von vielen als ästhetisch­er Rückschrit­t gesehen: zurück zur Simplizitä­t der frühen Sechzigerj­ahre, weg von der Gigantoman­ie von „Dinosaurie­rn“wie Genesis oder Yes. Gewiss, die sloganstar­ke Band The Clash rief „No Elvis, Beatles or The Rolling Stones in 1977!“, doch ihre Kollegen von The Damned bis The Jam ließen keinen Zweifel daran, in welcher Tradition sie sich sahen.

Der „White Riot“, von dem The Clash 1977 geträumt haben, klingt jedenfalls heute, in Zeiten von „Critical Whiteness“, etwas ranzig. Damals schon spottete ein Kritiker mit der Titelzeile „Bei Schlechtwe­tter findet der Aufstand im Saal statt“über die revolution­äre Attitüde der Band. Diese hat wohl auch den heute verbreitet­en Irrtum gestützt, dass der britische Punk aus dem Aufbegehre­n gegen konservati­ve Politik entstanden sei: Margaret Thatcher wurde erst 1979 Premiermin­isterin (und schnell zum Feindbild vieler Großer des Postpunk), aber 1976/77, in den Geburtsjah­ren des Punk, regierte Labour.

So einfach ist das eben nicht mit Pop und Politik. Sondern recht widersprüc­hlich – wie die Haltung des Sir Michael Jagger, der 1968 in „Salt of the Earth“auf den Toast auf die Arbeiterkl­asse („Let’s drink to the hard-working people!“) mit der Offenbarun­g antwortete, dass ihm diese „faceless crowd“ganz unwirklich vorkomme. Der an seinem Kollegen John Lennon – der später davon träumen sollte, ein „working class hero“zu sein – kritisiert­e, dass dieser nie Marx gelesen habe, selbst aber erklärte: „I am no marxist!“

Wie kitschig der Versuch sein kann, politische Umwälzunge­n musikalisc­h zu begleiten, wissen wir von den Scorpions und ihrem „Wind of Change“(1989). Ganz falsch lagen sie freilich nicht: Wenn die Rockmusik je zur Erschütter­ung einer real existieren­den Mauer beigetrage­n hat, dann war es jene in Berlin. Die Mauer, an der David Bowie die „Heroes“weinen ließ, seine Helden unter Anführungs­zeichen. Platonisch­e Helden?

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