Lob der Grenze
Was ist eine Grenze? Vorab nicht mehr und nicht weniger als eine wirkliche oder gedachte Linie, durch die sich zwei Dinge voneinander unterscheiden. Wer immer einen Unterschied wahrnimmt, nimmt auch eine Grenze wahr, wer immer einen Unterschied macht, zieht eine Grenze. Philosophisch gesprochen, bedeutet dies, dass die Grenze überhaupt die Voraussetzung ist, etwas wahrzunehmen und zu erkennen. Wäre alles unterschiedslos eines, gäbe es auch nichts zu sehen, nichts zu identifizieren, nichts zu wissen. Jede Erkenntnis beginnt mit dem einen, dem entscheidenden Akt: Dieses ist nicht jenes. Nichts anderes meinte der viel zitierte, Baruch Spinoza zugeschriebene Satz, nach dem jede Bestimmung vorerst einmal eine Verneinung darstellt: Omnis determinatio est negatio. Wer immer etwas begreift, begreift vorerst einmal, was dieses Etwas nicht ist.
Niemand könnte „Ich“sagen, wenn damit nicht auch schon eine Grenze zwischen mir und dem Anderen gezogen wäre. Eine Grenze kategorial zu ziehen bedeutet noch nicht, zu werten. Ein Stuhl wird nicht diskriminiert, wenn man feststellt, dass er kein Tisch ist. Eine Grenze zu ziehen bedeutet aber sehr wohl, im selben Atemzug mit der Frage konfrontiert zu sein, wie wir mit den Unterschieden umgehen und inwieweit wir sie akzeptieren sollen. Denn eine Grenze zu erkennen oder zu setzen bedeutet immer schon, ihre Überschreitung, zumindest als Option, mitdenken zu können.
Im alltagssprachlichen Gebrauch assoziiert man zu Grenze wohl immer noch in erster Linie die politische Grenze. Die Linie, wie immer sie aussehen mag, wie immer sie bewacht sein mag, wie immer die Schlag- bäume bemalt sein mögen, diese Linie erscheint uns als Inbegriff der Grenze und gleichzeitig als Inbegriff des problematischen Aspekts der Grenze. Dass Grenzen fallen sollen, weil sie willkürlich trennen, was eigentlich zusammengehört – nämlich Menschen –, ist mittlerweile Bestandteil der politischen Rhetorik fast jeder Provenienz. Und nicht zuletzt die Globalisierung und das Projekt der EU werden als eine Entwicklung betrachtet, die Grenzen zum Verschwinden bringen soll.
Bezogen ist dies vor allem auf die Grenzen der national- und territorialstaatlichen Ordnungen, die selbst ein relativ spätes Produkt der Menschheitsgeschichte sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viele Jahrtausende lang nomadisierende Gesellschaften gegeben hat und dass auch das uns nahe europäische Mittelalter mit seinen pränationalen feudalen Herrschaftsstrukturen den zusammenhängenden Staat in seinen Grenzen nicht kannte. An unserem Umgang mit politischen Grenzen, ihren Überschreitungen und Aufhebungen können wir allerdings viel von jener Ambivalenz ausmachen, die dem Begriff der Grenze innewohnt.
Nirgendwo werden das Aufbrechen und Verschwinden von Grenzen so positiv erfahren wie im Bereich der Politik. Die starren Grenzen der Territorialstaaten verlieren zunehmend ihre Bedeutung, nicht nur im Inneren der EU. Dass sich Kapital, Waren, Dienstleistungen, Kommunikationen, Daten rasant um den Erdball bewegen, ohne auf staatliche Grenzen Rücksicht zu nehmen, gehört zu den wesentlichen Erfahrungen der Globalisierung. Diese Freiheit der grenzenlosen Bewegung trifft übrigens auch auf Umweltgifte und die atomare Strahlung zu. Vielleicht war es nicht die Liberalisierung des internationalen Finanzhandels seit 1989, sondern das Reaktorunglück von Tschernobyl, das 1986 den Menschen klarmachte, dass unter den Bedingungen einer hochriskanten technologischen Zivilisation nationale Grenzen bedeutungslos geworden sind. Die Euphorie über den Abbau von Grenzen könnte sich unter diesen Perspektiven auch in Grenzen halten. Und was den politischen Willen zu diesem Abbau betrifft, darf bei allen positiven Aspekten grenzenloser Geld-, Kommunikations- und Verkehrsflüsse nicht vergessen werden, dass dahinter weniger ein Programm der Humanisierung zwischenstaatlicher Beziehungen steckt als vielmehr die durch die Globalisierung bedingte Krise des modernen Territorialstaates.
Scharf formuliert: Die Öffnung von Grenzen ist nicht Ausdruck eines politischen Programms, sondern Effekt einer Krise der Politik. Die zunehmende Macht inter- und transnationaler Unternehmungen, aber auch international agierender Organisationen unterschiedlichen Typs führte in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Erosion des an einen strengen Begriff von Staatlichkeit gebundenen Politikverständnisses, die schlicht als der Verlust von Herrschaft über definierte Räume bezeichnet werden kann. Die Ohnmacht der Staaten angesichts der Forderungen international agierender Unternehmen dokumentiert diesen Verlust von Grenzkontrolle ebenso wie die Hilflosigkeit angesichts zunehmender Migrationsströme, aber auch angesichts der Ratlosigkeit gegenüber dem internationalen Terror.
Allerdings: Überall dort, wo Grenzen verschwinden, entstehen neue, andere Grenzen. Auch wenn die neuen Herrschaftsformen der Ökonomie keine nationalen Grenzen kennen, bedeutet dies nicht, dass sie grenzenlos wären. Es entstehen neue Linien, die über Inklusionen und Exklusionen entscheiden, über drinnen und draußen, über diesseits und jenseits. Wer je versucht hat, ohne entsprechende Legitimation eines der von privaten Sicherheitsdiensten schwer bewachten „Wohnghettos“der neuen Globalisierungselite am Rande einer der Weltmetropolen zu betreten, weiß, was eine Grenze und eine Grenzkontrolle inmitten bedeutungslos gewordener nationaler Grenzen bedeuten. Und wenn wir an den Satz des großen Thomas Hobbes denken, nach dem der Krieg aller gegen alle dort beginnt, wo die Bürger aus Angst vor ihren Mitbürgern ihre Eingangstüren und im Haus ihre Kästen verschließen, also ihren privaten Lebensraum als Grenze definieren können, dann wissen wir, dass von einer Aufhebung der politischen, sozialen und sicherheitstechnischen Grenzen keine Rede sein kann.
Nirgendwo allerdings lässt sich das Wechselspiel von Grenzaufhebung, Grenzüberschreitung und Grenzziehung derzeit so gut studieren wie an „Europa“. Das Projekt der EU lebt in hohem Maße vom Pathos der fallenden Grenzen, andererseits wird aber allmählich deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Die Bedeutungslosigkeit alter europäischer Binnengrenzen korrespondiert so nachdrücklich mit der für viele unüberwindlichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgerichtet ist. Der Zusammenhang zwischen einer Begriffsbestimmung im spinozistischen Sinn und den politischen Perspektiven zeigt sich