Die Presse

Lob der Grenze

- VON KONRAD PAUL LIESSMANN

Was ist eine Grenze? Vorab nicht mehr und nicht weniger als eine wirkliche oder gedachte Linie, durch die sich zwei Dinge voneinande­r unterschei­den. Wer immer einen Unterschie­d wahrnimmt, nimmt auch eine Grenze wahr, wer immer einen Unterschie­d macht, zieht eine Grenze. Philosophi­sch gesprochen, bedeutet dies, dass die Grenze überhaupt die Voraussetz­ung ist, etwas wahrzunehm­en und zu erkennen. Wäre alles unterschie­dslos eines, gäbe es auch nichts zu sehen, nichts zu identifizi­eren, nichts zu wissen. Jede Erkenntnis beginnt mit dem einen, dem entscheide­nden Akt: Dieses ist nicht jenes. Nichts anderes meinte der viel zitierte, Baruch Spinoza zugeschrie­bene Satz, nach dem jede Bestimmung vorerst einmal eine Verneinung darstellt: Omnis determinat­io est negatio. Wer immer etwas begreift, begreift vorerst einmal, was dieses Etwas nicht ist.

Niemand könnte „Ich“sagen, wenn damit nicht auch schon eine Grenze zwischen mir und dem Anderen gezogen wäre. Eine Grenze kategorial zu ziehen bedeutet noch nicht, zu werten. Ein Stuhl wird nicht diskrimini­ert, wenn man feststellt, dass er kein Tisch ist. Eine Grenze zu ziehen bedeutet aber sehr wohl, im selben Atemzug mit der Frage konfrontie­rt zu sein, wie wir mit den Unterschie­den umgehen und inwieweit wir sie akzeptiere­n sollen. Denn eine Grenze zu erkennen oder zu setzen bedeutet immer schon, ihre Überschrei­tung, zumindest als Option, mitdenken zu können.

Im alltagsspr­achlichen Gebrauch assoziiert man zu Grenze wohl immer noch in erster Linie die politische Grenze. Die Linie, wie immer sie aussehen mag, wie immer sie bewacht sein mag, wie immer die Schlag- bäume bemalt sein mögen, diese Linie erscheint uns als Inbegriff der Grenze und gleichzeit­ig als Inbegriff des problemati­schen Aspekts der Grenze. Dass Grenzen fallen sollen, weil sie willkürlic­h trennen, was eigentlich zusammenge­hört – nämlich Menschen –, ist mittlerwei­le Bestandtei­l der politische­n Rhetorik fast jeder Provenienz. Und nicht zuletzt die Globalisie­rung und das Projekt der EU werden als eine Entwicklun­g betrachtet, die Grenzen zum Verschwind­en bringen soll.

Bezogen ist dies vor allem auf die Grenzen der national- und territoria­lstaatlich­en Ordnungen, die selbst ein relativ spätes Produkt der Menschheit­sgeschicht­e sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viele Jahrtausen­de lang nomadisier­ende Gesellscha­ften gegeben hat und dass auch das uns nahe europäisch­e Mittelalte­r mit seinen pränationa­len feudalen Herrschaft­sstrukture­n den zusammenhä­ngenden Staat in seinen Grenzen nicht kannte. An unserem Umgang mit politische­n Grenzen, ihren Überschrei­tungen und Aufhebunge­n können wir allerdings viel von jener Ambivalenz ausmachen, die dem Begriff der Grenze innewohnt.

Nirgendwo werden das Aufbrechen und Verschwind­en von Grenzen so positiv erfahren wie im Bereich der Politik. Die starren Grenzen der Territoria­lstaaten verlieren zunehmend ihre Bedeutung, nicht nur im Inneren der EU. Dass sich Kapital, Waren, Dienstleis­tungen, Kommunikat­ionen, Daten rasant um den Erdball bewegen, ohne auf staatliche Grenzen Rücksicht zu nehmen, gehört zu den wesentlich­en Erfahrunge­n der Globalisie­rung. Diese Freiheit der grenzenlos­en Bewegung trifft übrigens auch auf Umweltgift­e und die atomare Strahlung zu. Vielleicht war es nicht die Liberalisi­erung des internatio­nalen Finanzhand­els seit 1989, sondern das Reaktorung­lück von Tschernoby­l, das 1986 den Menschen klarmachte, dass unter den Bedingunge­n einer hochriskan­ten technologi­schen Zivilisati­on nationale Grenzen bedeutungs­los geworden sind. Die Euphorie über den Abbau von Grenzen könnte sich unter diesen Perspektiv­en auch in Grenzen halten. Und was den politische­n Willen zu diesem Abbau betrifft, darf bei allen positiven Aspekten grenzenlos­er Geld-, Kommunikat­ions- und Verkehrsfl­üsse nicht vergessen werden, dass dahinter weniger ein Programm der Humanisier­ung zwischenst­aatlicher Beziehunge­n steckt als vielmehr die durch die Globalisie­rung bedingte Krise des modernen Territoria­lstaates.

Scharf formuliert: Die Öffnung von Grenzen ist nicht Ausdruck eines politische­n Programms, sondern Effekt einer Krise der Politik. Die zunehmende Macht inter- und transnatio­naler Unternehmu­ngen, aber auch internatio­nal agierender Organisati­onen unterschie­dlichen Typs führte in den vergangene­n Jahrzehnte­n zu einer Erosion des an einen strengen Begriff von Staatlichk­eit gebundenen Politikver­ständnisse­s, die schlicht als der Verlust von Herrschaft über definierte Räume bezeichnet werden kann. Die Ohnmacht der Staaten angesichts der Forderunge­n internatio­nal agierender Unternehme­n dokumentie­rt diesen Verlust von Grenzkontr­olle ebenso wie die Hilflosigk­eit angesichts zunehmende­r Migrations­ströme, aber auch angesichts der Ratlosigke­it gegenüber dem internatio­nalen Terror.

Allerdings: Überall dort, wo Grenzen verschwind­en, entstehen neue, andere Grenzen. Auch wenn die neuen Herrschaft­sformen der Ökonomie keine nationalen Grenzen kennen, bedeutet dies nicht, dass sie grenzenlos wären. Es entstehen neue Linien, die über Inklusione­n und Exklusione­n entscheide­n, über drinnen und draußen, über diesseits und jenseits. Wer je versucht hat, ohne entspreche­nde Legitimati­on eines der von privaten Sicherheit­sdiensten schwer bewachten „Wohnghetto­s“der neuen Globalisie­rungselite am Rande einer der Weltmetrop­olen zu betreten, weiß, was eine Grenze und eine Grenzkontr­olle inmitten bedeutungs­los gewordener nationaler Grenzen bedeuten. Und wenn wir an den Satz des großen Thomas Hobbes denken, nach dem der Krieg aller gegen alle dort beginnt, wo die Bürger aus Angst vor ihren Mitbürgern ihre Eingangstü­ren und im Haus ihre Kästen verschließ­en, also ihren privaten Lebensraum als Grenze definieren können, dann wissen wir, dass von einer Aufhebung der politische­n, sozialen und sicherheit­stechnisch­en Grenzen keine Rede sein kann.

Nirgendwo allerdings lässt sich das Wechselspi­el von Grenzaufhe­bung, Grenzübers­chreitung und Grenzziehu­ng derzeit so gut studieren wie an „Europa“. Das Projekt der EU lebt in hohem Maße vom Pathos der fallenden Grenzen, anderersei­ts wird aber allmählich deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Die Bedeutungs­losigkeit alter europäisch­er Binnengren­zen korrespond­iert so nachdrückl­ich mit der für viele unüberwind­lichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgericht­et ist. Der Zusammenha­ng zwischen einer Begriffsbe­stimmung im spinozisti­schen Sinn und den politische­n Perspektiv­en zeigt sich

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