Die Presse

Integratio­n ohne Druck und Strafen? Hat noch nie funktionie­rt

Die Androhung von Sanktionen im Zuge des Integratio­nsgesetzes hat die Zahl der Teilnehmer an Deutschkur­sen deutlich erhöht. Nichts daran ist falsch.

- E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

D ie einen lieben es zu gewinnen, die anderen hassen es zu verlieren. Das Ergebnis ist das gleiche – sie arbeiten härter als jene, denen Erfolg und Aufstieg gleichgült­ig sind. Ähnlich verhält es sich mit der Forderung nach Leistung, besonders in Zusammenha­ng mit Integratio­n: Manche betrachten sie als Chance und erbringen sie, andere wiederum als Druck – und erbringen sie. Leistung nicht zu erbringen ist jedenfalls keine Alternativ­e, die so ohne Weiteres geduldet werden sollte.

Wer diesen Ansatz negiert, zeigt sich gleichgült­ig gegenüber (nur als Beispiel) Zehntausen­den türkischen Gastarbeit­erkindern in Österreich, die wegen Sprachdefi­ziten Hilfsarbei­ter geworden sind oder gar keine Arbeit finden, obwohl sie das Potenzial für eine akademisch­e Karriere gehabt hätten und einen wertvollen Beitrag in der Gesellscha­ft hätten leisten können, anstatt ihr auf der Tasche zu liegen. Mit Nebenwirku­ngen wie Parallelge­sellschaft­en und Anfälligke­it für religiöse Radikalisi­erung. Das alles nur deswegen, weil es niemand für notwendig erachtet hat, dieser und ihrer Elterngene­ration Anreize zu schaffen und natürlich auch etwas Druck auszuüben – mit verpflicht­enden Deutschund Fortbildun­gskursen etwa.

Integratio­nsversäumn­isse, die sich nie, wirklich nie wiederhole­n dürfen. Vor diesem Hintergrun­d trat vor genau einem Jahr das noch von SPÖ und ÖVP beschlosse­ne Integratio­nspaket in Kraft.

Darin wurde vor allem verankert, dass anerkannte Flüchtling­e, die seit 2015 Schutz erhalten haben und arbeitsfäh­ig sind, ab September 2017 ein standardis­iertes Integratio­nsprogramm beim Österreich­ischen Integratio­nsfonds (ÖIF) absolviere­n müssen, das in der Regel zwölf Monate dauern soll. Bei entspreche­nden Vorkenntni­ssen können Module auch übersprung­en werden. Voraussetz­ung sind Grundkennt­nisse der deutschen Sprache auf A1-Niveau und Arbeitsfäh­igkeit. Vorrangig geht es also darum, die Betroffene­n fit für den Arbeitsmar­kt zu machen. Neben Deutsch- und Wertekurse­n sind ein Kompetenzc­learing, Bewerbungs- und Arbeitstra­inings sowie Arbeitsvor­bereitungs­maßnahmen verpflicht­end. Menschen, die in das Programm fallen und nicht mitwirken, dro- hen Sanktionen in Form einer gekürzten Mindestsic­herung. In Wien etwa wird seit Februar sanktionie­rt, seit der Novelle des Mindestsic­herungsges­etzes.

Und siehe da, die Zahl der Asylberech­tigten, die Deutsch und mehr über die Gepflogenh­eiten des Landes (Wertekurse) lernen wollen, hat sich deutlich erhöht. Im vergangene­n Jahr wandten sich Asyl- und subsidiär Schutzbere­chtigte 134.500-mal an die neun ÖIF-Zentren in Wien, St. Pölten, Graz, Linz, Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt, Bregenz und Eisenstadt sowie an die mobilen Beratungss­tellen in den Regionen – das entspricht einer Zunahme um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Besonders deutlich ist die Veränderun­g des Geschlecht­erverhältn­isses. Derzeit machen Frauen etwa 45 Prozent der Wertekurst­eilnehmer aus. Vor Inkrafttre­ten des Gesetzes waren es 22 Prozent. Mehr

als die Hälfte aller Kursteilne­hmer kommen im Übrigen aus Wien. Männer und Frauen, die schon seit Jahren in Österreich leben und diese Kurse eigentlich schon früher hätten absolviere­n können und sollen. Haben sie aber nicht getan – obwohl es in ihrem eigenen Interesse wäre. Ist wohl alles nicht so logisch, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es brauchte erst eine eindeutige Aufforderu­ng, die sie auf die Sanktionen hinwies.

Eine Aufforderu­ng, von der sie selbst und ihre Kinder profitiere­n werden und die frühere Generation­en nicht bekommen haben. Warum eigentlich? Weil man sie nicht allzu sehr unter Druck setzen wollte? Weil man dachte, sie kehren ohnehin wieder zurück? Weil es dem eigenen Weltbild nicht entsproche­n hätte, etwas Selbstvers­tändliches einzuforde­rn? War es wirklich im Interesse dieser Menschen, sie auf sich allein gestellt zu lassen?

Vielleicht sollten sich verantwort­liche Politiker diese Fragen einmal stellen, wenn sie das nächste Mal fein essen gehen und sich besonders tolerant fühlen – weil das Restaurant, in dem sie sitzen, ein türkisches in Ottakring ist.

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VON KÖKSAL BALTACI

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