„Habe noch nie Predigt über Neid gehört“
Interview. Samuel Gregg ist Forschungsdirektor am Acton Institute, einem konservativ-libertären Thinktank aus den USA. Er hält den Staat für ungeeignet, soziale Probleme zu lösen. Nicht der Kapitalismus töte, sondern Systeme wie Venezuela.
Die Presse: Das Wort „Kapitalismus“hat einen negativen Beigeschmack. Warum eigentlich? Samuel Gregg: Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist, dass jene negativen Konnotationen mitschwingen, die das Wort in Marx’ Schriften hat. Der zweite Grund ist, dass wir dem Markt gern die Schuld an Dingen geben, die nichts mit dem Markt zu tun haben. Der dritte ist, dass – obwohl wir in einer Marktwirtschaft leben – viele Leute nicht verstehen, wie diese funktioniert. Wenn wir etwas so gewöhnt sind wie den Markt, dann nehmen wir es als gegeben an und fragen nicht nach, wie es eigentlich funktioniert. Und wenn man etwas nicht versteht, ist die Versuchung groß, es schlechtzureden.
Was verstehen die Leute nicht? Sie verstehen nicht, wie der Finanzsektor funktioniert, aber das ist ja auch kompliziert. Sie verstehen vielfach auch nicht, wie Preise zustande kommen. Und wenn sie ein Problem haben, glauben sie, dass nur der Staat es lösen kann.
Sie schreiben Bücher namens „For God and Profit“oder „Tea Party Catholic“. Geraten Sie da nicht oft mit christlichen Kapitalismuskritikern in Konflikt? Ich bin ein praktizierender Katholik. Wenn ich Leute in der Kirche über Wirtschaft und Geld reden höre, dann wird oft deutlich, dass sie nicht viel davon verstehen. Ich wundere mich andererseits auch, wie wenig sich manche Ökonomen für Ethik interessieren. Ich glaube, dass Christen eine unabdingbare Verpflichtung haben, sich um die Armen zu sorgen. Aber dabei hilft es, wenn man etwas von Wirtschaft versteht. Denn dann versteht man auch, was ein guter Weg ist, Armut langfristig zu bekämpfen, und was ein nicht so guter Weg ist.
Was ist ein guter Weg, den Armen zu helfen, und was nicht? Gut ist Beschäftigung. Und da muss man sich fragen, welches System am nachhaltigsten Arbeitsplätze schafft. Der Sozialismus tut das nicht. Marktwirtschaften sind gut darin, Wohlstand hervorzubringen, und im Zuge dessen bringen sie Beschäftigung hervor. Der normale Weg, Menschen aus der Armut zu helfen, ist, ihnen die Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Nun gibt es Fälle von Menschen, die nicht arbeiten kön- nen, behindert sind. Denen sollten wir zuerst über die Kirche und andere zivilgesellschaftliche Institutionen helfen. Der Staat sollte die letzte Station sein. Aber in vielen europäischen Ländern, auch in Teilen Amerikas, gibt es den Ruf, dass der Staat als Erster die Probleme lösen sollte.
In Österreich würden viele sagen, Menschen haben ein Recht auf Hilfe durch den Staat und sollten nicht bei der Kirche oder anderen Einrichtungen um Hilfe betteln müssen. Man kann natürlich über ein Recht auf Arbeit oder ein Recht auf Einkommen reden. Aber die wirkliche Frage ist: Wie erreicht man das? Die Geschichte zeigt: Der Staat ist nicht so gut darin. In vielen Gesellschaften hat man versucht, das über den Staat zu schaffen. Dann gibt es Scheinjobs, Leute, die Jobs ausüben, die sie nicht mögen oder die tatsächlich sinnlos sind. Im Kommunismus gab es den Spruch: „Sie tun so, als ob sie uns Jobs gäben, und wir tun so, als ob wir arbeiteten.“So war das.
Man könnte sagen: Immerhin wurde so verhindert, dass Menschen völlig aus dem Arbeitsmarkt hinausgefallen sind. Wenn man mit jemandem spricht, der wirklich im Kommunismus gelebt hat, dann sagt einem der, dass das Leben sehr unglücklich war, es Alkohol- und Drogenmissbrauch gab, weil die Leute ohne Hoffnung waren. Zwar wurde jedem das Minimum garantiert, aber alle waren gleich arm. Wenn man Menschen helfen will, sich zu entwickeln, dann muss man Wohlstand entstehen lassen. Und dafür muss man ein gewisses Maß an Ungleichheit akzeptieren, das ist der Preis dafür. Aber natürlich schafft das eine neue Herausforderung für die Gesellschaft: Die Leute werden neidisch, wenn sie Wohlstandsunterschiede sehen.
Und das ist kein Problem? Man könnte sagen: Das zehnte Gebot richtet sich gegen Neid. Ich kann mich aber nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Predigt über Neid gehört habe. Eigentlich habe ich noch nie eine Predigt über Neid gehört. Die Kirche redet viel über Armut, und ich glaube, dass das auch gut ist. Ich sage den Geistlichen aber, dass die Ökonomie ein gutes Werkzeug wäre, um die Ursachen von Armut zu verstehen. Die Ökonomie zeigt auch, dass Leistungsanreize wichtig sind. Das sagen übrigens nicht nur Ökonomen, sondern auch Thomas von Aquin.
Es gibt aber in der Bibel das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, wo die, die den ganzen Tag gearbeitet haben, genauso viel bekommen wie die, die eine Stunde gearbeitet haben. Das ist eine interessante Parabel. Sie hat natürlich die spirituelle Botschaft, dass es keine Rolle spielt, ob man Christus in einer frühen oder späten Phase des Lebens akzeptiert, er ist der Weg zum Heil. Aber es gibt auch eine ökonomische Botschaft: Wenn Sie und ich eine Vereinbarung treffen, dann ist das zwischen uns, und wenn ich eine Vereinbarung mit jemand anderem treffe, hat das
(*1969) ist Forschungsdirektor am Acton Institute, einem USThinktank, der sich für freie Marktwirtschaft in einem jüdisch-christlichen Wertekontext engagiert. Gregg hat politische Philosophie in Melbourne und Oxford studiert. Sein Buch „Für Gott und den Profit“wurde vom Austrian Institute of Economics and Social Philosophy auf Deutsch herausgegeben. Dieser Tage hielt Gregg einen Vortrag bei der Industriellenvereinigung in Wien. nichts damit zu tun. So funktioniert Gerechtigkeit. Ich sollte nicht schauen, ob irgendjemand anderer mehr bezahlt bekommt, der eine andere Vereinbarung getroffen hat. Denn das ist Neid.
Wie stehen Sie eigentlich dazu, dass Papst Franziskus über unser System sagt: „Diese Wirtschaft tötet“? In dem Sinn, dass Papst Franziskus uns auffordert, nicht auf die Armen an den Rändern der Gesellschaft zu vergessen, hat er absolut recht. Ich glaube aber nicht, dass Kapitalismus tötet. Wenn Sie ein Wirtschaftssystem sehen wollen, das tötet, gehen Sie nach Venezuela, wo der Sozialismus klar versagt hat. Was in unserer Gesellschaft zu Armut führt, hat wenig mit der Wirtschaft selbst zu tun. Das hat zu tun mit dem Zusammenbruch von Familien, dem geringen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Viele Obdachlose sind nicht arm aus materiellem Mangel, sondern weil sie psychische Erkrankungen haben. Ohne Marktwirtschaft und Kapitalismus würden wir alle materiell gesehen schlechter leben, viele wären mit 30 schon tot. Ich akzeptiere also nicht den Satz, dass diese Wirtschaft tötet.
Könnten solche Sätze der Anlass sein, dass sich manche Ökonomen nicht mit Ethik oder Religion befassen wollen? Das ist sicher so. Aber die Aussage hat auch damit zu tun, dass Papst Franziskus aus Lateinamerika kommt und dieser Generation angehört. Diese Leute haben keine Marktwirtschaft westlicher Prägung erlebt, sondern Vetternwirtschaft und Gefälligkeitskapitalismus. Das verstehen sie unter Kapitalismus, und das lehnen sie ab.
Es gibt Leute, die die katholische Kirche aus ganz anderen Gründen kritisieren und ihr vorwerfen, dass sie zu reich ist und ihr Vermögen besser den Armen geben sollte. Zum einen ist es ist sehr schwer, eine Kathedrale zu verkaufen. Außerdem: Wenn all diese schöne Kunst und Architektur in Privatbesitz wäre, könnte sie niemand anschauen. Kann die Kirche durch Wohlstand korrumpiert werden? Natürlich. Je reicher sie ist, desto leichter wird sie von ihrer Aufgabe abgelenkt. Das ist etwa das Problem der katholischen Kirche in Deutschland. Es hat manchmal den Anschein, dass sich die mehr um die Kirchensteuer als um das Seelenheil der Menschen sorgen. Andererseits: Wenn die Kirche keine materiellen Güter hat, kann sie auch niemandem helfen. Jede Organisation, die sich karitativ betätigt, braucht ein Mindestmaß an materiellen Gütern.