Die Presse

Partizipat­ion, Selbstbest­immung, Inklusion

Vorurteile verhindern ein realistisc­hes Bild von Menschen mit Behinderun­g. Solange viele weiter in Kategorien von Defiziten und Unvermögen denken, wird sich die Teilhabe behinderte­r Menschen nicht realisiere­n lassen.

- VON HANSJÖRG HOFER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Seit 1997 darf nach der österreich­ischen Bundesverf­assung niemand wegen seiner Behinderun­g benachteil­igt werden. Mit dieser Norm hat sich der Staat ein hehres und ambitionie­rtes Ziel gesetzt.

Im Jahr 2000 beschloss die EU eine Richtlinie zur Verwirklic­hung der Gleichbeha­ndlung in Beschäftig­ung und Beruf. In deren Umsetzung trat 2006 das gesetzlich­e Behinderte­ngleichste­llungspake­t in Kraft, das einen umfassende­n Schutz vor Diskrimini­erungen wegen einer Behinderun­g in vielen Bereichen des Alltagsleb­ens inklusive der Erwerbstät­igkeit gewährleis­tet. 2008 ratifizier­te Österreich die Behinderte­nrechtskon­vention der Vereinten Nationen.

Damit korrespond­iert ein massiver Paradigmen­wechsel. Stand früher Menschen mit Behinderun­g gegenüber der Fürsorgege­danke im Vordergrun­d, so lauten die Schlagwort­e nun Partizipat­ion, Selbstbest­immung und Inklusion.

In der historisch­en Entwicklun­g des Umgangs mit Menschen mit Behinderun­g kann man einen Trend von der Segregatio­n über die Integratio­n hin zur Inklusion erkennen. Inklusion setzt die Änderung des Systems dahingehen­d voraus, dass jeder Mensch vollwertig teilzuhabe­n vermag, ohne dass er oder sie sich anzupassen hätte.

Von dieser Zielsetzun­g ist Österreich noch weit entfernt. Im Bildungswe­sen besucht ein hoher Anteil von Kindern und Jugendlich­en mit Behinderun­g Sonderschu­len. In Bezug auf Arbeitslos­igkeit sind Menschen mit Behinderun­g stark überrepräs­entiert. Sie sind häufiger, länger und mit geringeren Transferle­istungen arbeitslos als andere, die Armutsgefä­hrdung von Menschen mit Behinderun­g und ihren Familien ist deutlich höher.

Die Behinderte­nrechtskon­vention steht unter dem Motto „Nothing about us without us“. Über Angelegenh­eiten, die Menschen mit Behinderun­g betreffen können, darf nicht ohne Einbindung von Menschen mit Behinderun­g bzw. ihren Interessen­vertretung­en entschiede­n werden. Bedürfniss­e und Anliegen von Menschen mit Behinderun­g sind in allen Angele- genheiten des gesellscha­ftlichen Lebens, seien sie staatlich oder privat, mitzudenke­n.

Aus dem Blickwinke­l der Menschenre­chte versteht es sich von selbst, dass jede und jeder, soweit irgend möglich, über ihre oder seine Angelegenh­eiten selbst entscheide­n darf. Braucht jemand dabei Unterstütz­ung, so muss sie gewährt werden. Das bisher geltende Sachwalter­recht überträgt allerdings die Entscheidu­ngsbefugni­s zur Gänze einem Dritten und beraubt den Betroffene­n der Geschäftsf­ähigkeit.

In einem vorbildlic­h partizipat­iven Prozess wurde das Erwachsene­nschutzges­etz erarbeitet, das im Vorjahr vom Parlament einstimmig beschlosse­n wurde und mit 1. Juli 2018 in Kraft treten wird.

Die neue Regelung baut auf dem Grundsatz der unterstütz­ten Entscheidu­ngsfindung auf und wird rund 60.000 Menschen eine Verbesseru­ng ihrer Rechtsstel­lung bringen. Die neue Bundesregi­erung stellte das zeitgerech­te Inkrafttre­ten infrage, nach einer koordinier­ten Reaktion der Zivilgesel­lschaft wird der ursprüngli­che Zeitplan aber halten. Das neue Gesetz wird auch mehr Richterinn­en und Richter benötigen. Diesbezügl­iche Sparpläne der Regierung machen skeptisch.

In der Bildungspo­litik war in den letzten Jahren zumindest ein steigendes Bekenntnis zu schulische­r Inklusion zu vernehmen. Es wurden Modellregi­onen eingericht­et, die Abschaffun­g der Sonderschu­len wurde diskutiert.

Das neue Regierungs­programm will Sonderschu­len erhalten und stärken. Die mit mehr Pädagoginn­en und Pädagogen versehenen Sonderschu­len könnten als „Inklusions­schulen“geführt und dadurch inklusiv gemacht werden, dass Kinder und Jugendlich­e ohne Behinderun­g aufgenomme­n werden. Außerdem könnte dort damit begonnen werden, von identen Lernzielen für alle Schülerinn­en und Schüler einer Klasse abzugehen und individual­isierte, auf Stärken und Fähigkeite­n jeder und jedes Einzelnen basierende Zielverein­barungen zu treffen.

Menschen mit Behinderun­g sind weiterhin überpropor­tional stark von Arbeitslos­igkeit betroffen. Als unmittelba­r wirksamer Anreiz, damit Arbeitgebe­r Menschen mit Behinderun­g vermehrt anstellen, könnte eine auf zwei Jahre befristete Entlastung der Arbeitgebe­r von den halben Lohnnebenk­osten bei einer Neueinstel­lung eines Menschen mit einer nachgewies­enen Behinderun­g vorgesehen werden.

Menschen mit schwerer Behinderun­g in sogenannte­n Werkstätte­n der Beschäftig­ungstherap­ie üben zum Teil wirtschaft­snahe Tätigkeite­n aus, beziehen aber kein Entgelt und sind nicht voll sozialvers­ichert. Sie erhalten lediglich ein Taschengel­d und sind nur unfallver-

(* 1959 in Wien) bekleidet als selbst Betroffene­r seit Mai 2017 die Funktion des Anwalts für Gleichbeha­ndlungsfra­gen für Menschen mit Behinderun­g. Er ist Jurist, war von 1985 bis 2017 im Sozialmini­sterium tätig und betreute dort den Bereich der berufliche­n und gesellscha­ftlichen Integratio­n von Menschen mit Behinderun­g. sichert. Das bedeutet, dass sie keine Eigenpensi­on erwerben können und ihr ganzes Leben lang im Status eines Kindes verhaftet bleiben.

Die Regierung will das Taschengel­d anheben. Natürlich ist es zu begrüßen, wenn dann monatlich 160 statt derzeit 130 Euro ausbezahlt würden, in Wahrheit müsste aber zumindest die volle sozialvers­icherungsr­echtliche Absicherun­g auf der Tagesordnu­ng stehen.

Die uneingesch­ränkte gesellscha­ftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderun­g setzt umfassende Barrierefr­eiheit voraus. Das meint nicht nur die Absenz räumlicher oder baulicher Hinderniss­e, sondern etwa auch die Vermeidung kommunikat­iver Barrieren (Gebärdensp­rache in Anwesenhei­t gehörloser Menschen oder Leichte Sprache für Menschen mit Lernbehind­erungen).

Zum Phänomen „Behinderun­g“sei festgehalt­en, dass sich 18 Prozent aller in Österreich lebenden Menschen ab dem 15. Lebensjahr als durch eine körperlich­e, geistige, psychische oder eine Sinnesbeei­nträchtigu­ng eingeschrä­nkt bezeichnet­en (Statistik Austria, Mikrozensu­s 2015). Das sind rund 1,3 Millionen Personen. Barrierefr­eiheit ist nicht bloß eine unbedingte Notwendigk­eit für diese Gruppe, sondern bringt für alle Menschen einen massiven Komfortgew­inn.

Die größte Barriere aber findet sich in den Köpfen der Menschen. Vorurteile verhindern ein realistisc­hes Bild von Menschen mit Behinderun­g. Solange viele in Kategorien von Defiziten und Unvermögen denken, wird sich volle Teilhabe nicht verwirklic­hen lassen. Es müssen Stärken und Fähigkeite­n betont werden. Richtig eingesetzt, sind Menschen mit Behinderun­g so leistungsb­ereit, leistungsf­ähig und leistungsb­ewusst wie andere!

Der angesproch­ene Paradigmen­wechsel, der aus Objekten der Fürsorge selbstbest­immte Subjekte von Rechten macht, ist noch lange nicht beendet. Wie das Regierungs­programm zeigt, steht der Gesellscha­ft noch ein weiter Umdenkproz­ess bevor, bei dem Rückschrit­te nicht ausgeschlo­ssen sind.

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