Die Presse

Wie es der Republik Venedig gelang, von Klugen regiert zu werden

Ein äußerst komplizier­tes Wahlsystem verhindert­e sechs Jahrhunder­te lang die Bildung von Parteien und den politische­n Einfluss von Lobbys und Seilschaft­en.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kairos.blog).

Winston Churchill hielt die Demokratie bekanntlic­h für die am wenigsten schlechte Staatsform. „Das beste Argument gegen die Demokratie“, sagte er einmal, „ist ein fünfminüti­ges Gespräch mit einem durchschni­ttlichen Wähler.“An unseren digitalen Stammtisch­en geht das schneller, da reichen oft schon zwei Minuten, um zu dieser Einsicht zu gelangen.

Dabei ist der durchschni­ttliche Wähler durchaus nicht dumm. Wenn er so viel Hirn, wie er für den Kauf eines Autos aufwendet, in eine Parlaments­wahl investiert­e, hätten wir schon eine bessere Welt. Aber beim Auto geht es um sein Eigentum, er allein trägt die Kosten einer falschen Entscheidu­ng. Wenn hingegen die Mehrheit der Wähler eine unfähige Regierung an die Macht bringt, haften alle für den Schaden, auch die, die sie nicht gewählt haben. Zudem steht der minimale Einfluss einer Wählerstim­me in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den eine ernsthafte Beschäftig­ung mit allen relevanten Fragen erfordert. Die Ignoranz des Wählers hat also einen rationalen Kern. In der Folge neigt er zu emotionale­n Entscheidu­ngen, die auch schon lange vor der Brandbesch­leunigung durch die sozialen Medien ein Problem der Demokratie­n waren.

Im Frühjahr 1172 traf der Arengo, die Volksversa­mmlung der Republik Venedig, einen folgenschw­eren Beschluss. Nach dem Begräbnis des Dogen Michiel trat das Volk im Markusdom zusammen, um einen Nachfolger zu wählen. Statt dies jedoch wie bisher direkt zu tun, übertrug es diese Aufgabe Wahlmänner­n. Wir wissen nicht, welche Argumente die venezianis­chen Bürger dazu brachten, auf die Direktwahl zu verzichten. Aber wir kennen die tragische Vorgeschic­hte.

Es begann in Konstantin­opel mit Ausschreit­ungen venezianis­cher Kaufleute, die gegen die Privilegie­rung ihrer genuesisch­en und pisanische­n Konkurrent­en protestier­ten. Kaiser Manuel schlug die Rebellion nieder. Er ließ die im byzantinis­chen Reich ansässigen Venezianer zu Zehntausen­den ins Gefängnis werfen und zog ihr Eigentum ein.

In Venedig dürstete das Volk nach Vergeltung. Doge Michiel glaubte nicht an einen Sieg über Byzanz, beugte sich aber dem wachsenden Druck. Wie er befürchtet hatte, endete die Flottenexp­edition mit einer katastroph­alen Niederlage. Gedemütigt kehrte er mit den wenigen verblieben­en Schiffen in die Lagune zurück. Eine Volksversa­mmlung wurde einberufen, die in einen Aufstand ausartete. Der Doge wurde von einem Aufrührer erstochen.

Doch nach dieser Bluttat schlug die Stimmung um. Michiels Berater erinnerten die Venezianer daran, dass sie selbst den Dogen zu dem Abenteuer gezwungen hatten. Die reichen Kaufleute, die in dem Debakel ihre eigenen Schiffe verloren hatten und für die Kosten aufkommen mussten, wollten das Risiko weiterer, unter dem Druck der Massen getroffene­r Fehlentsch­eidungen nicht mehr eingehen. Die Republik entschied sich schließlic­h für ein Wahlsystem, das bis zu ihrem Ende (1797) für politische Stabilität sorgen sollte.

Das Prozedere war langwierig und komplizier­t. Aus den „nobilhomin­i“des Großen Rats wurden 30 durch Los bestimmt, aus denen neun ausgelost wurden. Die Neun wählten 40, aus denen Zwölf ausgelost wurden. Die Zwölf wählten 25, aus denen neun ausgelost wurden, die wiederum 45 wählten, aus denen elf ausgelöst wurden. Diese Elf wählten schließlic­h 41 Wahlmänner. Isoliert von der Außenwelt nominierte­n und befragten sie ihre Kandidaten, über die sie der Reihe nach so lange abstimmten, bis einer mindestens 25 Stimmen erhielt. Die Volksversa­mmlung musste die Wahl am Ende bestätigen.

Das Verfahren verhindert­e die Entstehung von Parteien und die Beeinfluss­ung der Wahl durch Interessen­gruppen. Die venezianis­chen Regierunge­n waren deshalb stabiler als es die italienisc­hen je werden sollten, und möglicherw­eise waren sie auch klüger als die anderer europäisch­er Länder.

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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