Wie es der Republik Venedig gelang, von Klugen regiert zu werden
Ein äußerst kompliziertes Wahlsystem verhinderte sechs Jahrhunderte lang die Bildung von Parteien und den politischen Einfluss von Lobbys und Seilschaften.
Winston Churchill hielt die Demokratie bekanntlich für die am wenigsten schlechte Staatsform. „Das beste Argument gegen die Demokratie“, sagte er einmal, „ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.“An unseren digitalen Stammtischen geht das schneller, da reichen oft schon zwei Minuten, um zu dieser Einsicht zu gelangen.
Dabei ist der durchschnittliche Wähler durchaus nicht dumm. Wenn er so viel Hirn, wie er für den Kauf eines Autos aufwendet, in eine Parlamentswahl investierte, hätten wir schon eine bessere Welt. Aber beim Auto geht es um sein Eigentum, er allein trägt die Kosten einer falschen Entscheidung. Wenn hingegen die Mehrheit der Wähler eine unfähige Regierung an die Macht bringt, haften alle für den Schaden, auch die, die sie nicht gewählt haben. Zudem steht der minimale Einfluss einer Wählerstimme in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den eine ernsthafte Beschäftigung mit allen relevanten Fragen erfordert. Die Ignoranz des Wählers hat also einen rationalen Kern. In der Folge neigt er zu emotionalen Entscheidungen, die auch schon lange vor der Brandbeschleunigung durch die sozialen Medien ein Problem der Demokratien waren.
Im Frühjahr 1172 traf der Arengo, die Volksversammlung der Republik Venedig, einen folgenschweren Beschluss. Nach dem Begräbnis des Dogen Michiel trat das Volk im Markusdom zusammen, um einen Nachfolger zu wählen. Statt dies jedoch wie bisher direkt zu tun, übertrug es diese Aufgabe Wahlmännern. Wir wissen nicht, welche Argumente die venezianischen Bürger dazu brachten, auf die Direktwahl zu verzichten. Aber wir kennen die tragische Vorgeschichte.
Es begann in Konstantinopel mit Ausschreitungen venezianischer Kaufleute, die gegen die Privilegierung ihrer genuesischen und pisanischen Konkurrenten protestierten. Kaiser Manuel schlug die Rebellion nieder. Er ließ die im byzantinischen Reich ansässigen Venezianer zu Zehntausenden ins Gefängnis werfen und zog ihr Eigentum ein.
In Venedig dürstete das Volk nach Vergeltung. Doge Michiel glaubte nicht an einen Sieg über Byzanz, beugte sich aber dem wachsenden Druck. Wie er befürchtet hatte, endete die Flottenexpedition mit einer katastrophalen Niederlage. Gedemütigt kehrte er mit den wenigen verbliebenen Schiffen in die Lagune zurück. Eine Volksversammlung wurde einberufen, die in einen Aufstand ausartete. Der Doge wurde von einem Aufrührer erstochen.
Doch nach dieser Bluttat schlug die Stimmung um. Michiels Berater erinnerten die Venezianer daran, dass sie selbst den Dogen zu dem Abenteuer gezwungen hatten. Die reichen Kaufleute, die in dem Debakel ihre eigenen Schiffe verloren hatten und für die Kosten aufkommen mussten, wollten das Risiko weiterer, unter dem Druck der Massen getroffener Fehlentscheidungen nicht mehr eingehen. Die Republik entschied sich schließlich für ein Wahlsystem, das bis zu ihrem Ende (1797) für politische Stabilität sorgen sollte.
Das Prozedere war langwierig und kompliziert. Aus den „nobilhomini“des Großen Rats wurden 30 durch Los bestimmt, aus denen neun ausgelost wurden. Die Neun wählten 40, aus denen Zwölf ausgelost wurden. Die Zwölf wählten 25, aus denen neun ausgelost wurden, die wiederum 45 wählten, aus denen elf ausgelöst wurden. Diese Elf wählten schließlich 41 Wahlmänner. Isoliert von der Außenwelt nominierten und befragten sie ihre Kandidaten, über die sie der Reihe nach so lange abstimmten, bis einer mindestens 25 Stimmen erhielt. Die Volksversammlung musste die Wahl am Ende bestätigen.
Das Verfahren verhinderte die Entstehung von Parteien und die Beeinflussung der Wahl durch Interessengruppen. Die venezianischen Regierungen waren deshalb stabiler als es die italienischen je werden sollten, und möglicherweise waren sie auch klüger als die anderer europäischer Länder.