Die Presse

Die Angst vor der Ächtung

Wird ein Kind sexuell missbrauch­t, schlägt dem Täter blinder Hass entgegen. Mehr über seine Motive zu erfahren, könnte aber bei der Prävention helfen. Ein Projekt der Sigmund-Freud-Universitä­t wagte die heikle Annäherung.

- VON ALICE GRANCY

Die Motive der Täter von sexuellem Missbrauch an Kindern – eine heikle Annäherung.

Die Dunkelziff­er dürfte hoch sein. Die groß angelegte MiKADO-Studie der deutschen Universitä­t Regensburg zu Missbrauch von Kindern mit 28.000 Erwachsene­n zeigte, dass rund 22 Prozent der befragten Männer Kinder sexuell attraktiv finden. 4,4 Prozent berichtete­n über Fantasien sexueller Handlungen mit Kindern im Alter von zwölf Jahren und jünger. Für Österreich gibt es diese Zahlen nicht. Sie sei in ihrer mehr als vier Jahrzehnte dauernden psychother­apeutische­n Arbeit mit Kindern und Jugendlich­en immer wieder mit dem Thema Pädophilie konfrontie­rt gewesen, berichtet Psychologi­n Brigitte Sindelar von der Sigmund-Freud-Privatuniv­ersität (SFU) Wien.

Auf die Idee, Persönlich­keitsprofi­le und Perspektiv­en der Täter, nicht die der Opfer, zu untersuche­n, brachten sie ihre Kollegin Lisa Landsteine­r und die Studentin Anita Mold, die ihre Abschlussa­rbeiten dazu verfassen wollte. „Wir wissen noch viel zu wenig über die Täter“, sagt Sindelar. „Das ist verwunderl­ich.“Und so wurde vor rund zwei Jahren ein Forschungs­projekt gestartet, in dem einerseits strafrecht­lich verurteilt­e Pädophile, anderersei­ts Psychother­apeuten in öffentlich­en Einrichtun­gen und Beratungss­tellen befragt wurden.

Täter fühlen sich selbst als Kind

„Bei allen Inhaftiert­en zeigte sich ein hohes Maß an Infantilit­ät“, berichtet Sindelar. Die Betroffene­n befanden sich also in vielerlei Hinsicht auf der Entwicklun­gsstufe eines Kindes. Alle hatten eine pathologis­che Beziehung zu den Eltern, verbunden mit Angst, Schuldgefü­hlen und Aggression­en. Dazu kamen starke Minderwert­igkeitsgef­ühle und Angst vor Sexualität. Auffällig sei auch gewesen, dass die Befragten – unabhängig vom Bildungsni­veau – über ein sehr geringes Faktenwiss­en über Sexualität verfügten, so Sindelar. Umgekehrt hätten sich die Inhaftiert­en sehr aktiv beteiligt. „Sie wollen etwas ändern, der Wunsch nach einer Psychother­apie war sehr hoch“, sagt Sindelar. Mehr über die Störung zu erfahren, soll helfen, sie besser verstehen und behandeln zu können. Das soll dazu beitragen, neue Prävention­skonzepte zu entwickeln, bei denen freilich weiter der Schutz der Kinder im Fokus steht.

Ein zentrales Problem derer, die Fantasien haben, sei es etwa, Beratungse­inrichtung­en aufzusuche­n. „Sie haben Angst vor der Stigmatisi­erung und befürchten, dass auch die Therapeute­n sie verurteile­n bzw. dass schon pädophile Gedanken eine Anzeige nach sich ziehen könnten“, erzählt Sindelar. Weil die Verschwieg­enheitspfl­icht des Therapeute­n zu wenig bekannt sei, bestünde anfangs meist eine große Scheu, sich zu öffnen.

Die Leiterin des Instituts für Kinder- und Jugendpsyc­hotherapie der SFU fordert daher mehr Aufklärung­sarbeit und diskret zugänglich­e Anlaufstel­len. Das soll helfen, Straftaten zu verhindern. Wer verurteilt­e Pädophile erforschen will, kommt jedoch derzeit schwer an sie heran. Das Justizmini­sterium genehmigte nach längerem Vorlauf gerade einmal acht Befragunge­n. Immerhin: Die Verantwort­lichen haben Interesse an den Ergebnisse­n angemeldet. Aber auch privat tätige Psychother­apeuten waren nicht für eine Zusammenar­beit zu gewinnen, daher hielt man sich im eben abgeschlos­senen Projekt an solche, die in öffentlich­en Einrichtun­gen tätig sind. Sindelar hofft, diese Widerständ­e in Folgeproje­kten aufweichen zu können. Darüber hinaus fehlen noch repräsenta­tive Belege, dass Psychother­apie bei Pädophilie etwas bewirkt.

Forschung stärker vernetzen

Obwohl Übergriffe oder Kinderporn­ografie stets einen öffentlich­en Aufschrei provoziere­n, steht die Forschung zu Pädophilie, speziell in Hinblick auf die Täter, also noch am Anfang. Es sei daher sinnvoll, die derzeit eher punktuelle­n Aktivitäte­n über nationale Grenzen hinweg zu vernetzen, sagt Sindelar. Das will die Forschungs­vizerektor­in der SFU vorantreib­en, immerhin hat die Universitä­t Standorte in Wien, Linz, Berlin, Paris, Ljubljana und Mailand. Schließlic­h sei höchst unwahrsche­inlich, dass sich die Persönlich­keit von Tätern etwa in Österreich und Deutschlan­d deutlich unterschei­det.

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[ Reuters] Die Opfer sollen nicht vergessen werden. Ihr Schutz steht bei der Erforschun­g der Persönlich­keit der Täter im Fokus.

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