Die Presse

Das Wikingermä­rchen, Teil zwei

Island will kein One-Hit-Wonder sein, hat in Russland jedoch ein Problem: Die Sensations­truppe von der Vulkaninse­l wird selbst bei ihrem WM-Debüt von niemandem mehr unterschät­zt. Auch nicht von Lionel Messi und Co.

- VON JOSEF EBNER

Mit einem Spielzug wird Island nicht mehr überrasche­n können: Der rotzfreche Einwurftri­ck von Aron Gunnarsson, mit dem bei der Europameis­terschaft vor zwei Jahren nicht nur Österreich, sondern auch England düpiert wurde, wird bei dieser WM wohl nicht mehr ziehen. Überhaupt haben die auf Nummer 22 der Fifa-Weltrangli­ste vorgestoße­nen Isländer einiges an ihrer Außenseite­rrolle eingebüßt. Wer in der WM-Qualifikat­ion Kroatien, die Ukraine und die Türkei hinter sich lässt, kann auch in einer Gruppe mit Argentinie­n, Nigeria und erneut Kroatien bestehen.

Seit dem Viertelfin­al-Coup 2016 hat sich einiges getan auf der Atlantikin­sel. Der EM-Erfolgslau­f, der erst von Gastgeber Frankreich gestoppt wurde, hat seinen Teil zur Bewältigun­g der damaligen Finanz- und Regierungs­krise beigetrage­n, der Tourismus boomt seither mehr denn je. Und das Geld kommt auch im Fußball an: Die rund 800 Jugendtrai­ner werden ausnahmslo­s bezahlt, müssen allerdings eine Uefa-Lizenz vorweisen. Mittlerwei­le gibt es sieben Fußballhal­len mit Originalsp­ielfeldern, um trotz des rauen Klimas und der kurzen Tage ganzjährig trainieren zu können. Kunstrasen­plätze mit Flutlicht sind in den größeren Städten obligatori­sch, den traditione­ll starken isländisch­en Handballer­n wird mehr und mehr der Rang als Nationalsp­ort Nummer eins streitig gemacht.

Nach Frankreich übernahm der gelernte Zahnarzt Heimir Hallgrimss­on, der nach wie vor in einer Praxis auf der Insel Heimaey arbeitet, von Erfolgscoa­ch Lars Lagerbäck. Vor jedem Spiel pflegt er sich mit einem Fanklub in einer Bar in Reykjav´ık zu treffen und dem Anhang dort Startaufst­ellung und Taktik mitzuteile­n. Sein System ist auf die alten Stärken zugeschnit­ten, allen voran Mentalität und Teamgeist, innerhalb des Teams bestehen jahrelange Freundscha­ften, die Abwehrzent­rale mit Ragnar Sigurðsson und Ka´ri A´rnason etwa urlaubt gemeinsam.

Ein Trio als Rückgrat

Mit im Schnitt 1,85 Meter haben die Isländer bei der WM außerdem die Lufthoheit. Und wenn es sein muss, gehen sie immer noch rustikal zu Werke. Unvergesse­n der beleidigte Cristiano Ronaldo, nachdem Island den Portugiese­n zum EM-Auftakt ein 1:1 abgerungen hat: „Sie haben gar nicht versucht zu spielen.“Verteidige­r Ari Freyr Sku´lason entgegnete: „Was erwartet er? Dass wir wie Barcelona gegen ihn spielen?“

Längst ist auch Ballbesitz kein Fremdwort mehr bei den Wikingern. Die Truppe ist schließlic­h seit Jahren eingespiel­t. Als Island 2011 sein Debüt bei der U21-EM gab, waren Gunnarsson, Gylfi Sigurðsson und Alfreð Finnbogaso­n das Rückgrat der Mannschaft. Auch in Russland steht dieses Trio im Mittelpunk­t: Der rotbärtige Kapitän Gunnarsson, der die „Huh“Sprechchör­e orchestrie­rte, der um 50 Millionen Euro von Swansea nach Everton gewechselt­e Torjäger Sigurðsson und Augsburgs Finnbogaso­n, der in den jüngsten Testspiele­n, ein 2:3 gegen Norwegen und ein 2:2 gegen Ghana, je einen Treffer beisteuert­e. Stürmersta­r Sigurðsson aber ist nach einer Knieverlet­zung noch angeschlag­en. Im März ist er zuletzt für Everton aufgelaufe­n, sonderlich überzeugt hat er in der Premier League auch zuvor nicht. Dafür richten sich die Blicke nun auf Mittelfeld­mann Johann´ Berg Guðmundsso­n, der in Burnley eine beachtlich­e Saison hingelegt hat.

„Größtes Spiel der Geschichte“

Schon beim Auftaktspi­el in Gruppe D im Moskauer Spartak-Stadion gegen Argentinie­n soll das isländisch­e Märchen eine Fortsetzun­g finden. „Was für ein fantastisc­her Gegner für Islands erstes WMSpiel aller Zeiten“, meinte Mittelfeld­spieler O´lafur Ingi Sku´lason, nicht zu verwechsel­n mit Verteidi- ger Sku´lason. Teamchef Hallgr´ımsson erklärte: „Das ist das größte Spiel in Islands Fußballges­chichte.“Doch im Duell mit Lionel Messi und Co. kann eine Niederlage auch schnell sehr hoch ausfallen. Auch wenn Diego Maradona tönte, Island könne gewinnen. Tormann und Teilzeit-Filmemache­r Hannes Halldorsso­n´ staunte: „Diego Maradona denkt über Island nach.“

Der nach Einwohnern (334.000) kleinste WM-Teilnehmer der Geschichte wird sich mit voller Wucht gegen das argentinis­che Starensemb­le stellen. „Wir sind als Gruppe einfach einzigarti­g“, lautet ein Standardsa­tz von Stürmer Sigurðsson. Seine Tore wird es brauchen. Meist fallen sie nach Ecken oder Freistößen – und immer noch erstaunlic­h oft nach Einwürfen.

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[ Reuters ] Ob die „Huh“-Chöre auch Lionel Messi erzittern lassen? 66.000 Ticketanfr­agen hat es aus Island gegeben, jeder fünfte Inselbewoh­ner wäre gern zur WM gefahren.

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