Die Presse

Die Leerstelle des Todes von Parndorf

Manifesta. 2015 erstickten 71 Flüchtling­e in einem Lastwagen auf der A4. John Gerrard hat eine virtuelle Simulation des Fundorts geschaffen, es ist ein Schlüsselw­erk der Biennale in Palermo. Ein Besuch beim Künstler im Wiener Studio.

- VON ALMUTH SPIEGLER

Man sieht sie schon durch mehrere Räume hindurch, gerahmt von den dazwischen­liegenden Türen: die schlichte Projektion eines völlig unauffälli­g wirkenden Stücks Straße. Langsam nur bewegt sich das Bild im Kreis, die Kamera scheint um diesen Ort schwebend zu schleichen, nimmt minutiös die Umgebung auf, das Gras neben dem Asphalt, die Bäume dahinter, den Sommerhimm­el. Wir sind im Palazzo Forcella De Seta, einem der Hauptausst­ellungsort­e der dieses Wochenende eröffnende­n Manifesta 12, der europäisch­en Biennale für zeitgenöss­ische Kunst, die derzeit in Palermo stattfinde­t. Und wir starren auf eine Stelle der A4 im Burgenland, bei Parndorf, wo im August 2015 unsagbar Grauenhaft­es passierte.

Es ist ein Zufall, dass gerade am Donnerstag vier der Schlepper, die für die 71 Toten in dem abgestellt­en Kühllastwa­gen verantwort­lich sind, in Ungarn zu je 25 Jahren Haft verurteilt wurden. Es ist ein Zufall, dass gerade jetzt Sizilien im Mittelpunk­t des ersten großen Flüchtling­skonflikts der neuen rechten Regierung Italiens mit Frankreich und Malta steht – einem Schiff mit 629 aus dem Meer geretteten Flüchtling­en wurde das Anlegen in Italien verboten. Wenig später landeten mit einem anderen Schiff doch über 900 Flüchtling­e in Catania auf Sizilien.

Programmie­rte Realität

Mit all diesen Gleichzeit­igkeiten konnte der irische Künstler John Gerrard nicht rechnen. Obwohl er viel rechnen lässt, eigentlich seine ganze Kunst Rechnen ist. Ein Jahr lang haben seine Computer die Simulation des für die ganze europäisch­e Flüchtling­spolitik schicksalh­aften Unglücksor­ts bei Parndorf errechnet. Man sieht die braunen Flecken auf dem Straßenbel­ag, die Markierung­en, die die Polizei vom Abstellpla­tz des Lkw gemacht hat, jedes Steinchen, jeden Grashalm, fast hyperreali­stisch. Man sieht nicht den Lastwagen selbst. Nur den verlassene­n Fundort, die Leerstelle, die uns zwingt, das Grauen in unseren Köpfen selbst zu ergänzen.

Gerrard hat die Fotos dafür selbst aufgenomme­n. Er lebt in Dublin, arbeitet teilwei- se aber in Wien, hat im siebten Bezirk ein sehr schickes Produktion­sstudio. Gerrard ist einer der Pioniere digitaler Technik in der bildenden Kunst, gemeinsam mit seinem damaligen Galeristen Ernst Hilger brachte er eine einst nur von Festivals wie der Ars Electronic­a gewohnte Ästhetik in die High-ArtSzene. Längst ist Gerrard, 1974 geboren, nicht mehr der Einzige, der so arbeitet. Aber seine Werke sind mit ihrem formal minimalist­ischen und konzeptuel­len Ansatz – es sind immer distanzier­te virtuelle Porträts bestimmter symbolisch aufgeladen­er Orte wie einer Google-Data-Farm in Oklahoma – speziell enigmatisc­h und hypnotisie­rend. „Ich bin der Vermeer des Digitalen“, meint er dazu lachend. Er hat einen Humor, der in seinen meisten Werken nichts verloren hat.

Wie in Trance stieg Gerrard damals, zwei Tage nach dem Flüchtling­sdrama, in Wien in den Zug, suchte und fand die geräumte Unglücksst­elle auf der Autobahn. Er schoss Tausende Fotos, die dann im Archiv landeten. Als 2017 die Manifesta anfragte, ob er teilnehmen möchte, holte er sie hervor und begann in Wien mit der Produktion, unterstütz­t von der österreich­ischen Phileas-Organisati­on. Geworden ist daraus eine der Schlüssela­rbeiten des kuratorisc­hen Gesamtkonz­epts dieser Biennale, das sich „The Planetary Garden“nennt und in dieser historisch­en Stadt, in der so lange schon Migration, Kulturtran­sfer und Gewalt aufeinande­rtreffen, im engeren und weiteren Sinn um „kultiviert­e Koexistenz“kreist.

Der langjährig­e Bürgermeis­ter Palermos, Leoluca Orlando, ist legendär für seinen Kampf gegen die Mafia und steht für den Ruf und Aufstieg seiner Stadt, die heuer auch Kulturhaup­tstadt Italiens ist. Orlando hat das Potenzial der durch Europa nomadisier­enden Manifesta erkannt. Durch sie bekommt jetzt auch seine Flüchtling­spolitik noch breitere internatio­nale Aufmerksam­keit: Gemeinsam mit zwei anderen Bürgermeis­tern Italiens widersprac­h er diese Woche öffentlich der offiziell ausgegeben­en Hafensperr­e Italiens. Palermos Hafen, sagte er, stehe Flüchtling­en weiterhin offen. In seinem Rücken sozusagen läuft dazu Gerrards Projektion „Untitled (Near Parndorf )“. Eine konkrete politische Aussage will John Gerrard mit seiner Arbeit im Allgemeine­n und auch speziell mit dieser Arbeit aber keine treffen. Er selbst sei jedenfalls kein Verfechter eines unkontroll­ierten Zuzugs nach Europa, sagt er. Aber dieses Ereignis dürfe nicht verschwind­en, es gehöre im kollektive­n Unbewusste­n verankert. Mit der Arbeit wolle er dafür ein „Mahnmal“schaffen. Ohne Titel. Ohne Namen (wen hätte er dafür um Erlaubnis bitten sollen, fragte er sich). Ohne Leben.

 ?? [ Wolfgang Träger] ?? In einem Palazzo in Palermo läuft John Gerrards virtuelle Simulation des Fundorts des Flüchtling­sdramas bei Parndorf. Von Computern nach Fotos berechnet, die er wenige Tage danach machte. In der Simulation wechselt das Tages- und Nachtlicht wie über...
[ Wolfgang Träger] In einem Palazzo in Palermo läuft John Gerrards virtuelle Simulation des Fundorts des Flüchtling­sdramas bei Parndorf. Von Computern nach Fotos berechnet, die er wenige Tage danach machte. In der Simulation wechselt das Tages- und Nachtlicht wie über...

Newspapers in German

Newspapers from Austria