Musik als Ahnung einer besseren Welt
Mit der „Misa Criolla“sprengen lateinamerikanische Rhythmen alle gängigen Schubladen.
Alte Musik für alte Leute? Bei kaum einem einschlägigen Festival wird dieser absurde Fehlschluss so vehement und regelmäßig widerlegt wie bei den Innsbrucker Festwochen. Dass jahrhundertealte Werke uns ins Herz treffen oder auch genauso in die Beine gehen können wie ein aktueller Popsong, dass außerdem die viel diskutierte historische Aufführungspraxis kein starres, unabänderliches Regelwerk darstellt, sondern genauso auch den persönlichen Geschmack jener lebendiger Menschen widerspiegelt, die sie hier und jetzt interpretieren, damit punkten die Festwochen schon aus Tradition. Dass ihr Intendant, der Dirigent Alessandro De Marchi, auch ein versierter Jazzpianist ist, darf als schönes Symbol für die Offenheit des Festivals gelten. In die klingende Tat umgesetzt wird diese Haltung freilich jedes Jahr bei einem Abend unter dem Motto „Open Mind“. Diesmal ist dabei eine der weltweit populärsten südamerikanischen Kompositionen des 20. Jahrhunderts in Innsbruck zu erleben: die „Misa Criolla“des 2010 verstorbenen Argentiniers Ariel Ram´ırez, mit der dieser 1963/64 „die Hoffnung der Menschheit auf eine bessere Welt ausdrücken“wollte. Gelungen ist ihm dies durch die Verbindung des spanisch gesungenen Messtexts mit den Rhythmen und Melodien kreolischer Volksmusik: Jeder Satz basiert auf Klängen aus einem argentinischen Landesteil. Gewiss hatten die europäischen Conquistadores die indigenen Kulturen blutig marginalisiert, in der Christianisierung durch die Jesuiten konnten jedoch ihre Musiziertraditionen überleben, sofern sie dem neuen Glauben dienstbar gemacht wurden. Eduardo Egüez und sein Ensemble La Chimera machen diesen Vorgang nachvollziehbar, wenn sie die „Misa Criolla“mit traditionellen, von den Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert aufgezeichneten Klängen und aktueller Popularmusik zusammenführen: Andenflöte und Charango, Theorbe und Gamben überwinden in der Innsbrucker Jesuitenkirche zusammen mit dem Gesang Zeiten und Grenzen. So erfährt man Lebendigkeit und Unmittelbarkeit von Musikgeschichte – in einer Facon,¸ die dem Festivalmotto „Bewegte Welten“perfekt entspricht. (wawe)