Abgetan?
Im Geburtsjahr Peter Roseggers, 1843, erscheinen die ersten „Schwarzwälder Dorfgeschichten“Berthold Auerbachs und machen Epoche: Der jüdische Autor aus Nordstetten im Schwarzwald wird zu einer europäischen und schließlich zu einer Weltberühmtheit. Um die gleiche Zeit sucht sich Adalbert Stifter (erster Band der „Studien“1844) einen Namen zu machen. Beide Autoren hat Rosegger intensiv gelesen, imitiert und erfolgreich verwandelt. Zu Ende des Jahrhunderts sind Auerbach und Stifter nahezu vergessen. Rosegger hingegen ist auf dem Höhepunkt seines Erfolgs: 1913 wird er mit medialem und nationalem Getöse sogar als Anwärter für den Literaturnobelpreis lanciert.
Beide Autoren hat Rosegger, wie auch immer kurz, persönlich kennengelernt und darüber berichtet. Von Stifter erbittet er sich 1867 bei einer Kurzvisite in Linz eine Fotografie. Berthold Auerbach besucht er 1878 anlässlich einer Lesung in Berlin und erfährt die Genugtuung, dass der berühmte Autor seiner Lesung beiwohnt, ihn zu sich einlädt und ihm bescheinigt: „Wie gern möchte ich Ihnen zeigen, dass ich zu Ihnen stehe! Wir haben die gleiche Arbeit und das gleiche Ziel.“Diesen Appell im Zeichen der Volksaufklärung hat Rosegger auch von anderen vernommen, etwa von seinem früh verstorbenen Freund Ludwig Anzengruber, der zu Unrecht ganz im Schatten von Roseggers Erfolgsgeschichte verschwunden ist: „Wozu ich Sie auffordern möchte, ist eine Sache für das Volk – versuchen wir es einmal und gründen wir einen Volkskalender – einen guten Kalender – den nicht Turner, sondern Städter und Bauern, Arbeitgeber und Arbeiter lesen, und lassen Sie uns der Ameisenarbeit, ein Körnlein Bildung und Aufklärung zu dem Hügel der neuen Zeit zu schleppen, auch unsere Kraft widmen.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Rosegger bereits mit dem Stifter-Verleger Gustav Heckenast einen Vertrag über einen Volkskalender mit dem Titel „Das neue Jahr“abgeschlossen. Er erschien, mit einigen Beiträgen Anzengrubers, von 1873 bis 1880. Dass man mit einem Kalender „Plänkler der kommenden Zeiten“werden wollte, verrät etwas über das Prestige und die Reichweite dieses Mediums, in dessen Dienst sich auch Auerbach als Herausgeber des „Gevattermanns“und des „(Deutschen) Volkskalenders“gestellt und Gottfried Keller als Beiträger gewonnen hat. Als vorbildlicher Kalendermann galt ihm und Heckenast Johann Peter Hebel mit seinem „Rheinländischen Hausfreund“.
Für Auerbach ist er auch Anlass zu einer Theorie der Volksliteratur: „Schrift und Volk“. Angelehnt an Schillers Unterscheidung von naiver und sentimentalischer Dichtung proklamiert er, was bis heute kein Heimattümler begreifen mag: „Wer nicht hinauskommt, kommt nicht heim.“Die Literatur muss sich demnach vom Volk und der Heimat zuerst entfernen, um, im Zurückkommen, deren Eigenart im Guten und Schlechten zu erkennen und volksaufklärerisch wirken zu können. Für die Gegenwart gilt: „Alle modernen Völker sind über die Vorstufe der Idylle hinaus, die Glückseligkeit der sogenannten Naturmenschen ist dahin.“Allein die Dichtung, so Schiller, könne einen dritten Zustand, „das Ideal“, vorwegnehmen, in dem alle schreienden Widersprüche reflektiert und versöhnt seien. Geboren 1950 in Steyr. Bis 2003 Germanist an der Universität Wien, anschließend Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Gemeinsam mit Daniela Strigl Herausgeber von Peter Roseggers „Ausgewählten Werken in Einzelbänden“, die bei Styria erscheinen. vielfach Gelegenheit hatten, einen sogenannten ,Mandlkalender‘ zu verkaufen, der zahlreiche kleine Bilder von Heiligen enthielt, aus denen die des Lesens Unkundigen das jeweilige Tagesdatum erfahren.“Rosegger selbst schreibt, dass dieser Kalender alljährlich in 260.000 Exemplaren verbreitet wird. Von seinen Eltern konnte nur die Mutter, Tochter eines Köhlers, „den Druck“lesen.
Verallgemeinernd heißt es in der Vorrede zu den „Sittenbildern aus dem steierischen Oberlande“: Zwar lasse der „Culturzustand“des Steirers „gar Vieles zu wünschen übrig, aber er ist theilweise durch die natürlichen und politischen Mißverhältnisse, die ihn umgeben, zu entschuldigen. Indeß wendet sich ja gegenwärtig das Los der Steiermark, und zwar durch eigene Söhne, zum Besseren.“Das erinnert an Auerbachs Fazit über seine Reiseeindrücke als Revolutionstourist in der Steiermark. „Nur das sei noch kurz erwähnt, daß die Volksschule sich in jeder Beziehung in so jammervollem Zustande befindet, daß eine durchgreifende Reform nöthig. Der Mangel tüchtiger Volksschullehrer ist auffällig. – In den felsigen Gebirgsgegenden trifft man auf die schauderhafte Degeneration des Kretinismus.“Rosegger hat sich mit den zahlreichen Lehrerfiguren in seinem Werk, insbesondere aber mit seinem „einsamen Waldschulmeister“, für Hofmannsthal „die stärkste Figur Roseggers“, dieser Reform verschrieben.
Rosegger, zunächst Objekt und dann Subjekt liberaler Volksaufklärung, hat seinen immensen Erfolg auch dadurch errungen, dass er, immer mehr dem deutschnationalen Mainstream verpflichtet, nach und nach diese aufklärerische Position geräumt hat. Das betrifft auch seinen Widerstand gegen den Antisemitismus, der Auerbachs letzte Lebenszeit (Stichwort: Berliner Antisemitismusstreit) verdüstert hat, was Rosegger in seinem collagierten Porträt (1893) einräumt (mit einem nicht undelikaten Schlenker): „Gegen Ende seines Lebens ist Auerbachs Menscheninnigkeit stark getrübt worden durch den in Deutschland einreißenden reactionären, brutal unduldsamen Geist. Auerbach war einer jener Juden, die bei der antisemitischen Bewegung unschuldig leiden.“
Es nimmt daher nicht wunder, dass Roseggers Haltung zum Ersten Weltkrieg mehrheitsfähig ausfiel; nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich in seiner Kolumne „Heimgärtners Tagebuch“(ab 1906) in der von ihm 1876 gegründeten Monatsschrift „Heimgarten“entsprechend engagiert. Am schlimmsten ist freilich der „Steirische Waffensegen“, den er gemeinsam mit dem chauvinistischen Priesterdichter Ottokar Kernstock zu verantworten hat. Es ist bemerkenswert, dass Stefan Zweig Rosegger in seinem Nekrolog 1918 dem „europäischen Erbe“zuschlägt. Das, was sein Sohn Hans Ludwig mit diesem Erbe, darunter die „Heimgarten“-Herausgeberschaft von 1910 bis 1929, unternommen hat, führt allerdings direkt in den Nationalsozialismus. Roseggers „Waldheimat“-Geschichten haben ungeachtet der intensiven Indienstnahme durch die NS-Literaturpolitik die nationalso- zialistische Ära überstanden und reichen weit in die Fünfzigerjahre. Allein die vom Hamburger Jugendschriftenausschuss um 1900 herausgegebene dreibändige Auswahl „Als ich noch der Waldbauernbub war“erzielte zu dieser Zeit eine Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren.
Seither war Rosegger, wenn nicht speziell inszeniert, eher ein Anlass für einen Absetzreflex als für eine kreative Auseinandersetzung. Seine Texte sind teilweise besser als ihr Ruf, viele instruktiv als Symptom, manche unlesbar wie, so das harte Urteil Walter Benjamins, alle literarischen Erfolge der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Was Rosegger im Rückblick über Auerbach geschrieben hat, trifft nun, spätestens in den Sixties, auch auf ihn zu. Auerbach zählt für ihn nämlich bald nach dessen Tod zu den Dichtern, „die in meiner Jugend noch in weitesten Schichten mit Begeisterung gelesen wurden, jetzt aber ,abgetan‘ sind, darunter Namen wie Walter Scott, Jean Paul, Heinrich Heine, Berthold Auerbach“.
Waren in Roseggers Geburtsjahr Auerbachs Dorfgeschichten die Sensation, so ist das Todesjahr 1918 zwar das Ende einer Epoche, wenngleich die Epoche „seiner“Litera- tur damit nicht zu Ende ist. Und diese Fortsetzung hat seiner Reputation am meisten geschadet. Dabei hat es, wohl infolge des Nekrolog- und Nachrichtengewimmels anlässlich seines Todes, mit einer unerwarteten Spätlektüre seines Werks begonnen: Am 12. Juli 1918 notiert nämlich Arthur Schnitzler in seinem Tagebuch: „Seit ein paar Tagen Rosegger (von dem ich so gut wie nichts kannte), ,Allerhand Leute‘.“Und wenig später, zeitgleich mit dem Ärger über antisemitische Predigten in Mariazell heißt es am 16. Juli 1918: „Lese Rosegger mit Vergnügen und Bewunderung.“
Zu Beginn des Jahres 1919 liest Schnitzler Roseggers „Dorfsünden“; seinen Traum von der Ebner-Eschenbach resümiert er wie folgt: „über die Kunst der Ebner hatte ich mich zu O.[lga] sehr zweiflerisch geäußert – besonders im Gegensatz zu Rosegger; der mir in seiner dichterischen Begabung sehr aufgeht.“Diese Äußerungen sind umso bemerkenswerter, als Schnitzler das jüdische „Anbiedern ,drüben‘“, also bei den „Bodenständigen“, missbilligte.