Nur eine abstrakte Linie?
Grenzen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen sind eine vom Menschen zutiefst verinnerlichte Abstraktions- und Handlungspraxis. Eine Grenze ist eine gedachte oder abstrakte Linie, anhand der Unterscheidungen getroffen und Dinge durch Unterschiede identifiziert werden. Das moderne Staatensystem mit seinen Grenzen geht auf den Westfälischen Frieden zurück – Grenze bedeutet letztlich im Idealfall Konsens und Friede; so ist es etwa bezeichnend, dass die Kämpfer des Gewalt-Pseudostaates IS an die Häuserwände in den von ihnen eroberten Gebieten die Parole schrieben: „Wir kennen keine Grenzen, nur Fronten.“
Der Begriff der Grenze als abstraktes Konzept ist im Spätmittelalter über das Altpolnische ins Deutsche gekommen und löste Begriffe wie Mark oder Gescheide ab, die immer an konkrete naturräumlich-physische Sachverhalte gebunden waren. Der abstrakte, moderne Begriff der Grenze hatte ursprünglich einen räumlichen Bezug und wurde erst später auf andere – etwa zeitliche oder metaphorische – Grenzziehungen angewendet. Wenn auch Grenzen und Grenzziehungen ein anscheinend menschliches Wesensmerkmal darstellen, so steht dem die weitverbreitete Erfahrung gegenüber, dass Grenzüberschreitungen zu einer festen Routine der alltäglichen Handlungspraxis zählen. Dies zeigt sich auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen: Seien es Verwaltungsgrenzen, über die Städte schon längst hinausgewachsen sind, oder Umlandsiedlungen, die zusammengewachsen sind; oder Staatsgrenzen, die vom „kleinen Grenzverkehr“bis hin zur Mobilität im vereinten Europa hinsichtlich ihrer Bedeutung und Sinnhaftigkeit infrage gestellt werden. Die Überwindung und Aufhebung der nationalstaatlichen Grenzen für Unternehmen wie auch für Haushalte stellt eine zentrale Errungenschaft im europäischen Einigungsprozess dar.
In der historischen Betrachtung lässt sich eine Konjunktur der Grenze erkennen. Die 1990er-Jahre waren von einer Auflösung und Relativierung von Grenzen – insbesondere von Staatsgrenzen – geprägt. Der Abschluss von Freihandelsabkommen, die Durchsetzung digitaler Kommunikationstechniken und die zunehmende Intensivierung globaler Produktions- und Handelsnetzwerke, der Boom internationaler Finanzzentren, aber auch die Integrationsbemühungen der Europäischen Union haben die Vorstellung einer „Welt ohne Grenzen“in greifbare Nähe gerückt.
Doch die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit haben zu einer Veränderung der Lage geführt: Die Euro- und Schuldenkrise hat die Eurozone entlang volkswirtschaftlicher Grenzen in Schuldner- und Gläubigerländer gespalten, die Flüchtlingskrise hat zur Aussetzung des Schengenabkommens und zur Rückkehr von Grenzkontrollen geführt. Der Mauerbau an der USmexikanischen Grenze, zentrales Wahlversprechen von Donald Trump, rundet den Eindruck ab: Die Grenzen sind wieder da.
Wenngleich diese Gegenüberstellung etwas vereinfachend ist, eine Tendenz ist klar: Das Phänomen der Grenze unterliegt einem permanenten Wandel. Grenzen lösen sich auf, gewinnen wieder an Bedeutung, es ändern sich die ihnen zugeschriebenen Funktionen und Wirkungsweisen, längst vergessen geglaubte Grenzen kehren unerwartet wieder. Die Verschiebung der Großwetterlage hinsichtlich der Bedeutung und Wertung von Grenzen hat auch zu einer lebhaften Auseinandersetzung in den Raumwissenschaften geführt. In den Border Studies stellen grenzüberschreitende Handlungen und Praktiken angesichts der Veränderung von Grenzregimen ein zentrales Forschungsfeld dar; die Grenzraumforschung differenziert unterschiedliche Zugänge zur Grenze: Grenzen zur Aufteilung von Befugnissen und Macht, die Trennung/ Abgrenzung aus der Perspektive eines Zentrums sowie die Möglichkeiten, die sich aus der Verbindung von Räumen ergeben. Die Regionalforschung diskutiert die Frage der subnationalen Grenzziehungen vor allem in Verbindung mit der Frage, was eine Region eigentlich ist. Die politische Geografie untersucht die inneren und äußeren Grenzziehungen von Staaten.
Eine Grenze ist niemals ein hermetischer Abschluss, der Begriff impliziert im- mer auch den Aspekt der Grenzüberschreitung, ist zugleich Barriere und Kontaktzone. Beides steht und fällt mit dem Konsens der Grenzziehung; wird die Barrierewirkung von den Akteuren auf einer der beiden Seiten nicht akzeptiert, schwächt es diese.
Eine einseitig gezogene Grenze ist permanenter Konflikt und eine Reibungszone zwischen den Entitäten, wie die israelischen Grenzziehungen und „Separationsbarrieren“im Westjordanland seit Jahrzehnten anschaulich zeigen. Die Barrierewirkung der Grenze impliziert immer eine binäre Codierung wir/andere, die sich nicht auf die Räume beschränkt, sondern auch zugehörige Gruppen, zum Beispiel Staatsbürger, einschließt. Grenzräume sind jedoch auch immer Brücken, Kontaktzonen und Möglichkeitsräume, die quer zur Grenze liegende Sozialzusammenhänge ermöglichen und anregen.
Die Wirkungsmacht einer Grenze – sowohl als Barriere als auch als Kontaktzone – hängt neben dem Konsens über die Grenzziehung auch von der Art der Mobilisierung dies- und jenseits der Grenze ab. Einerseits existiert die materielle Barrierewirkung – also die technische Herstellung, Überwachung und Kontrolle einer Grenze, die eine unmittelbare soziale und ökonomische Wirkung entfalten kann. Andererseits die imaginative Barriere, die sich auf diskursive und emotionale Eigenschaften stützt, von Wahrnehmung und Identität aufgrund sprachlicher und kultureller Unterschiede geprägt ist und zur Differenzherstellung mobilisiert werden kann.
Handlungsrelevanz und Macht gegenüber Akteuren entfalten Grenzen vor allem auch dann, wenn sie beiderseitig anerkannt sind und sowohl eine materielle wie auch eine imaginative Barrierewirkung haben. Die Eigenschaft einer Grenze steht häufig im Zusammenhang mit ihrer historischen Persistenz. Grenzen können sehr unterschiedliche Funktionen einnehmen: Sie können administrativ-politische Einheiten begrenzen – hier handelt es sich in der Regel um den räumlichen Gültigkeits- und Wirkungsbereich von Institutionen. Staatsgrenzen sind wohl die wirkmächtigsten Grenzen, deren Unversehrtheit und Unantastbarkeit einen Grundkonsens der globalen Politik darstellen. Diese umfassen ebenso die Einsatzgebiete von Polizei, Feuerwehr oder Post-Rayone.
Zugleich kann es sich bei Grenzen auch um kulturelle, sprachliche, soziale Abgrenzungen handeln. So wirkmächtig die eine Funktion der Grenze auch sein möge, sagt dies nichts über deren andere Funktionen aus: Der „Eiserne Vorhang“, das Synonym für eine hermetische Grenze, deren „illegale“Überschreitung viele Menschenleben kostete, war als ökonomische Grenze wesentlich durchlässiger – eine semipermeable Membran, die selektiv mobilisiert wurde.
Die Annäherung an das Phänomen Grenze ist immer auch mit der Frage der Maßstäblichkeit verbunden: einerseits weil die unterschiedlichen Prozesse, Institutionen und Akteure der Grenzziehung auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind; das Spektrum reicht von den Grenzregimen der internationalen Staatenwelt bis zu unsichtbaren Grenzziehungen zwischen Akteursgruppen im öffentlichen Raum oder der materiellen Grenzziehung in Gated Communities. Andererseits haben Grenzen auf der Makroebene immer auch eine Wirkung auf die darunterliegenden Maßstabsebe- nen. So sind Grenzfragen und Konflikte häufig auf der Mesoebene angesiedelt, etwa der Konflikt um Fischereirechte in der Bucht von Piran zwischen Slowenien und Kroatien oder die Grenzziehungen an Nord- und Südpol durch die Anrainerstaaten. Die Mikroebene betrifft die physische Ausprägung von Grenzen (Mauern, Zäune et cetera) und das Management der Grenze durch entsprechende Einrichtungen.
Grenzen gestalten sich somit entlang historischer Rahmenbedingungen, was dazu führen kann, dass diese eine teilweise beträchtliche Persistenz entwickeln, sich umgekehrt Grenzen auch auflösen können sowie sich deren Funktion wandeln kann. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff des Lebenszyklus von Grenzen drückt zwar den Wandel aus, wenngleich dieser deterministisch und immer nur in eine Richtung abläuft; treffender ist es eher, von einem historisch kontingenten Wandel zu sprechen, der die Richtung und Abfolge von Veränderungen offenlässt.
Der Wandel von Grenzen lässt sich vor allem an der Verschiebung zwischen einer materiellen und einer imaginativen Barrierewirkung festmachen: Mit dem Zerfall der Sowjetunion wandelten sich die imaginativen Grenzen über Nacht zu materiellen Grenzen. War die Angliederung der Krim durch den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow im Jahr 1954 an die Ukrainische Sowjetrepublik lediglich ein Verschieben interner Verwaltungsgrenzen, so führte die Annexion durch Russland 2014 zu beträchtlichen internationalen Verwerfungen.
Der europäische Integrationsprozess zog eine entgegengesetzte Entwicklung nach sich: Mit der Einführung des europäischen Binnenmarktes, der Gemeinschaftswährung und letztlich der Einführung des Schengenraumes kam es zu einer sukzessi-
Qven Auflösung der materiellen Barrierewirkung von Grenzen; bis zur Flüchtlingskrise 2015 und der partiellen Einführung von Grenzkontrollen stellten diese lediglich Grenzen mit einer imaginativen Barrierewirkung dar. Das aktuelle Grenzmanagement an den Südgrenzen Österreichs oder Deutschlands zeigt, wie schnell sich die Funktion, die selektive Durchlässigkeit und die materielle Form von Grenzen jedoch ändern kann.
Die Wirkmächtigkeit von historischen Grenzen lässt sich an dem Phänomen der Phantomgrenzen zeigen: Hier handelt es sich um ehemalige politische Grenzen, die zwar aufgelöst wurden, aber nach wie vor den Raum und das Handeln der Akteure prägen. Die West-Ost-Spaltung der Ukraine aufgrund der Zugehörigkeit der Landesteile zu unterschiedlichen Staaten im 19. Jahrhundert (Österreich-Ungarn, Russland) prägt die regionalen Identitäten in der Ukraine, aber auch das Investitionsverhalten österreichischer Unternehmer, die sich hochgradig auf das „altösterreichische“, das Lemberger Gebiet konzentrieren. Die historische Dimension von Grenzen lässt sich also auch daran festmachen, dass diese weitervermittelt und durch soziokulturelle, politische oder ökonomische Handlungen reproduziert wird. Auch die Ost-West-Verschiebung der Grenze Polens wirkt bis heute im Wahlverhalten der Bevölkerung nach.
Grenzen und Grenzräume haben sich zu einem wichtigen Forschungsfeld unterschiedlicher Disziplinen entwickelt. Mit dem Boom der Grenzraumforschung ist eine Neubewertung von Grenzräumen einhergegangen: Diese werden weniger als periphere Randzonen der Volkswirtschaften gesehen, sondern als vielfältige Kontaktzonen, die zwar zum Teil von einer gewissen Peripherisierung geprägt sein können, zum Teil aber auch Wachstumsmotoren – sogar auf europäischer und globaler Ebene – darstellen können.
Die Dynamik und Prosperität von Grenzräumen hängt stark von der Durchlässigkeit, der Funktion und Imagination der Grenze ab; entsprechend vielfältig sind auch die Zugänge der Grenzraumforschung, wobei grob zwei empirische Zugänge unterschieden werden können: einerseits die Potenziale eines Ermöglichungsraumes, in dem der Grenzraum vorrangig eine Kontaktzone darstellt; andererseits die Folge der Barrierewirkung und der Umgang von Akteuren mit einem Grenzregime. Beiden formulierten empirischen Zugängen ist eines gemeinsam: Egal, ob Grenzen als Möglichkeitsräume oder als Barrieren gesehen werden, sie unterliegen einem steten Wandel, der daher immer neue Antworten einfordert.
Zunehmend stehen Möglichkeitsräume und Barrieren im Widerspruch zueinander, wie die aktuellen Entwicklungen innerhalb des Territoriums der Europäischen Union aufzeigen. Die jahrzehntelange zielgerichtete Programmatik einer Europäischen Territorialen Zusammenarbeit (ETZ) wird durch das partielle Aussetzen des Schengenregimes konterkariert. Grenzen als sozial konstruierte Praxis sind somit immer kontextbezogen.
Grenzen und deren mögliche Überschreitungen finden sich auf sämtlichen Maßstabsebenen, von der Rolle von Weltstädten wie London oder New York als Drehscheiben einer entgrenzten Globalisierung bis hin zu jenen Grenzen, die das Eigene und Fremde auf Mikroebene ausdifferenzieren. Grenzen sind daher seit je Beobachtungsraum, Labor und politisches Handlungsfeld, und darin werden auch in Zukunft die Herausforderungen der Grenzraumforschung liegen.