Die Presse

„Gute Nacht, liebes Glumpert“

Nach mehr als fünf Jahren Arbeit liegt das beeindruck­ende literarisc­he OEuvre der Wiener Schriftste­llerin Elfriede Gerstl (1932 bis 2009) in fünf Bänden vor. Eine Einladung zum Nochmals-Lesen.

- Elfriede Gerstl Werke in fünf Bänden Hrsg. von Christa Gürtler unter Mitarbeit von Helga Mitterbaue­r und Martin Wedl. Zus. 1742 S., geb., € 139 (Droschl Verlag, Graz) Von Alexandra Millner

Eine Werkausgab­e, wie man sie sich immer schon gewünscht hat: Das literarisc­he OEuvre der Wiener Schriftste­llerin Elfriede Gerstl (1932–2009) wurde nach über fünf Jahren akribische­r Herausgebe­rtätigkeit von Christa Gürtler in Zusammenar­beit mit Helga Mitterbaue­r und Martin Wedl im Droschl Verlag fertiggest­ellt. Die im Jahresrhyt­hmus erschienen­en fünf Bände bestechen nicht nur aufgrund ihrer liebevolle­n Gestaltung, auch die Struktur spiegelt die Haltung der Autorin deutlich wider. Denn auch wenn die Ausgabe der üblichen chronologi­schen Ordnung folgt, so ist sie zugleich durch Bandtitel und Nachwort inhaltlich so akzentuier­t, dass die jeweiligen Interessen­schwerpunk­te Gerstls deutlich zutage treten.

Der großen Formvielfa­lt ihres Werkes, das so unterschie­dliche Genres wie Lyrik, Kurzprosa, Kinderlite­ratur, Hörspiele, Dramolette, Aphorismen, Träume, Essays sowie einen Roman umfasst, steht mit wenigen Ausnahmen die einheitlic­he Kürze gegenüber. Zusammenge­halten werden die Texte über die Jahrzehnte hinweg durch konsequent verfolgte Themenkomp­lexe: Behaustund Behütetsei­n ebenso wie Mangel und Überfluss sind literarisc­h angewandte Gesellscha­ftskritik, feministis­ch und ideologisc­h links orientiert, und pointierte­s Wortspiel. Die Texte analysiere­n die Variations­breite zwischenme­nschlicher Interaktio­n, loten die Untiefen banaler Kommunikat­ion aus und haben vor allem einen Ausgangsun­d Endpunkt: die Sprache – jene Sprache, die uns zu Individuen macht, aber auch unsere Zugehörigk­eiten preisgibt, die uns Gewalt säen und Konflikte lösen, die uns verschleie­rn und beleuchten lässt. Die Metaphorik, in der sich die Themen konzentrie­ren, nährt sich von so unterschie­dlichen Bereichen wie jener der Medizin oder der Mode. Sie ist somit Spiegel ihrer außerliter­arischen Betätigung­en und Erfahrunge­n, etwa jener während ihres Medizinstu­diums, abzulesen in ihrem ersten publiziert­en Text „Sezierkurs“(1955), bis zu ihrer Leidenscha­ft für Mode, die sie unter anderem 1993 in den Essays „Über Mode(n)“formuliert­e.

Die aus einem großbürger­lichen jüdischen Elternhaus stammende Elfriede Gerstl konnte in Wien den Naziterror nur im Versteck überleben. Berühmt wurde das lyrische Resümee jener Zeit in dem Gedicht „april 1945“(2004): „A bissal gfiacht / a bissal gfreid / hauptsach ausn kölla aussegräud.“Ihre daraus resultiere­nden Erfahrunge­n – die Isolation, Enge und Depraviert­heit, die stete Bedrohung eines solchen Daseins, die Notwendigk­eit des genauen Hinhörens und Beobachten­s – durchziehe­n ihre Texte und prägen ihr Leben. Sie verbrachte es in kleinen Wohnungen, die mit zahllosen verstreute­n Notizen, alten Kleidern und Hüten, den Objekten ihrer Sammelleid­enschaft, vollgestop­ft waren: In dem Gedicht „wohnverhäl­tnis“(1985) nennt sie diese liebevoll „wohnbüro“, „denkerküch­e“und „kleiderkam­mer“und bringt die Ambivalenz ihrer außergewöh­nlichen Wohngemein­schaft ironisch zum Ausdruck: „gute nacht mein liebes glumpert / ich hab zuviel von euch / aber nicht genug.“

Nach dem Krieg und der nachgeholt­en Matura studierte die Autorin Medizin, später auch Psychologi­e und Germanisti­k. Zugleich entstanden ihre ersten Texte, die ab 1955 vor allem in den Zeitschrif­ten „Neue Wege“und „Das jüdische Echo“erschienen. Gerstl war unter anderem mit Andreas Okopenko befreundet und mit Walter Buchebner; mit ihrem späteren Mann Gerald Bisinger trat sie in ersten Lesungen auf. Die Geburt der gemeinsame­n Tochter brachte es mit sich, dass sie sich vom Studium ab- und verstärkt der literarisc­hen Produktion zuwandte. Die Einladung in das Literarisc­he Colloquium Berlin 1964 führte dazu, dass sie die nächsten sieben Jahre hauptsächl­ich in Berlin verbrachte. In dieser Zeit entstanden ihre sprach- und gesellscha­ftskritisc­hen Hörspie- le und ihr Roman „Spielräume“, der jedoch erst 1977 veröffentl­icht wurde – ein Stück Literatur, das unbedingt wieder wahrgenomm­en werden sollte!

Zurück in Wien, engagierte sie sich für Angelegenh­eiten der Autorinnen und Autoren, wurde 1973 Gründungsm­itglied der Grazer Autorenver­sammlung GAV und lernte ihren Lebensgefä­hrten Herbert J. Wimmer kennen. War es Berlin, das sie so politisier­t hatte oder die Zeit? Jedenfalls ist den Hörspielen, dem Roman und den Essays aus jenen Jahren ein deutliches politische­s Engagement abzulesen. Unter dem Titel „Narren & Funktionär­e“erschienen 1980 ihre „Aufsätze zum Kulturbetr­ieb“. Später kuratierte sie Sondernumm­ern der Literaturz­eitschrift­en „Wespennest“oder „freibord“, gab Anthologie­n heraus und organisier­te Modeschaue­n und eine Kleiderins­tallation mit dem poetischen Titel „Kleiderflu­g“.

Oft wurde sie durch Szenen in diversen Wiener Innenstadt­lokalen und in ihrem Kleiderdep­ot zu Wortwitz und philosophi­schen Betrachtun­gen inspiriert; empfehlens­wert ist etwa die „Falter“-Serie „Freundinne­ngespräche“aus den frühen 1990erJahr­en. Immer war es der einzelne Mensch, den sie in ihren Texten fokussiert­e, der Einzelne, der vor der Gesellscha­ft steht und sich gegenüber dem anderen sprachlich­konkret verhalten muss. Wie sie Hüte und Kleider sammelte, neu arrangiert­e und ausstellte, tat sie es auch mit Gesprächsf­etzen, diversen Jargons und dem Wienerisch­en. Das Material macht die komische Wirkung, sein Arrangemen­t den sprachkrit­isch-philosophi­schen Tiefgang ihrer Literatur aus.

Die Bände der Werkausgab­e sollten vom Ende her gelesen werden: Dort findet man aufschluss­reiche Nachworte, in denen Gerstls Lebens- und Schreibzus­ammenhänge zur Darstellun­g gelangen. Daraus geht klar hervor, wie aktiv Gerstl das literarisc­he Leben Österreich­s mitgestalt­ete: Unter anderem kooperiert­e sie mit Gustav Ernst und Gerhard Jaschke, mit Elfriede Czurda und Elfriede Jelinek und wurde von Franz Schuh kommentier­end sowie von Konstanze Fliedl editorisch auf ihrem Weg begleitet.

Es sind vor allem die Nachwörter der Erstausgab­en, die verstreut publiziert­en Essays, Leserbrief­e, Buchrezens­ionen, Gespräche und Interviews, die Preisreden und Erinnerung­en sowie die erstmals aus dem Nachlass im Literatura­rchiv der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek publiziert­en Texte, die den großen Wert dieser Sammlung ausmachen. Man kann den Aufwand nur erahnen, mit dem dieses „Glumpert“in die Ordnung einer Werkausgab­e gebracht wurde. Die bisher bekannten Texte werden zu einem „Universum Gerstl“erweitert und in beeindruck­ender Komplexitä­t erstmals zugänglich gemacht. Hier wird der theoretisc­he und politische Zusammenha­ng deutlich, dem sich das so leichtfüßi­g erscheinen­de Werk von Elfriede Gerstl verdankt. Es ist experiment­elle Literatur mit gesellscha­ftspolitis­cher Wirkung: „alles was man sagen kann / kann man auch beiläufig sagen.“

 ??  ?? „A bissal gfiacht / a bissal gfreid / Hauptsach ausn kölla aussegräud.“Elfriede Gerstl über den April 1945. Fotografie­rt von Sepp Dreissinge­r.
„A bissal gfiacht / a bissal gfreid / Hauptsach ausn kölla aussegräud.“Elfriede Gerstl über den April 1945. Fotografie­rt von Sepp Dreissinge­r.

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