„Gute Nacht, liebes Glumpert“
Nach mehr als fünf Jahren Arbeit liegt das beeindruckende literarische OEuvre der Wiener Schriftstellerin Elfriede Gerstl (1932 bis 2009) in fünf Bänden vor. Eine Einladung zum Nochmals-Lesen.
Eine Werkausgabe, wie man sie sich immer schon gewünscht hat: Das literarische OEuvre der Wiener Schriftstellerin Elfriede Gerstl (1932–2009) wurde nach über fünf Jahren akribischer Herausgebertätigkeit von Christa Gürtler in Zusammenarbeit mit Helga Mitterbauer und Martin Wedl im Droschl Verlag fertiggestellt. Die im Jahresrhythmus erschienenen fünf Bände bestechen nicht nur aufgrund ihrer liebevollen Gestaltung, auch die Struktur spiegelt die Haltung der Autorin deutlich wider. Denn auch wenn die Ausgabe der üblichen chronologischen Ordnung folgt, so ist sie zugleich durch Bandtitel und Nachwort inhaltlich so akzentuiert, dass die jeweiligen Interessenschwerpunkte Gerstls deutlich zutage treten.
Der großen Formvielfalt ihres Werkes, das so unterschiedliche Genres wie Lyrik, Kurzprosa, Kinderliteratur, Hörspiele, Dramolette, Aphorismen, Träume, Essays sowie einen Roman umfasst, steht mit wenigen Ausnahmen die einheitliche Kürze gegenüber. Zusammengehalten werden die Texte über die Jahrzehnte hinweg durch konsequent verfolgte Themenkomplexe: Behaustund Behütetsein ebenso wie Mangel und Überfluss sind literarisch angewandte Gesellschaftskritik, feministisch und ideologisch links orientiert, und pointiertes Wortspiel. Die Texte analysieren die Variationsbreite zwischenmenschlicher Interaktion, loten die Untiefen banaler Kommunikation aus und haben vor allem einen Ausgangsund Endpunkt: die Sprache – jene Sprache, die uns zu Individuen macht, aber auch unsere Zugehörigkeiten preisgibt, die uns Gewalt säen und Konflikte lösen, die uns verschleiern und beleuchten lässt. Die Metaphorik, in der sich die Themen konzentrieren, nährt sich von so unterschiedlichen Bereichen wie jener der Medizin oder der Mode. Sie ist somit Spiegel ihrer außerliterarischen Betätigungen und Erfahrungen, etwa jener während ihres Medizinstudiums, abzulesen in ihrem ersten publizierten Text „Sezierkurs“(1955), bis zu ihrer Leidenschaft für Mode, die sie unter anderem 1993 in den Essays „Über Mode(n)“formulierte.
Die aus einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus stammende Elfriede Gerstl konnte in Wien den Naziterror nur im Versteck überleben. Berühmt wurde das lyrische Resümee jener Zeit in dem Gedicht „april 1945“(2004): „A bissal gfiacht / a bissal gfreid / hauptsach ausn kölla aussegräud.“Ihre daraus resultierenden Erfahrungen – die Isolation, Enge und Depraviertheit, die stete Bedrohung eines solchen Daseins, die Notwendigkeit des genauen Hinhörens und Beobachtens – durchziehen ihre Texte und prägen ihr Leben. Sie verbrachte es in kleinen Wohnungen, die mit zahllosen verstreuten Notizen, alten Kleidern und Hüten, den Objekten ihrer Sammelleidenschaft, vollgestopft waren: In dem Gedicht „wohnverhältnis“(1985) nennt sie diese liebevoll „wohnbüro“, „denkerküche“und „kleiderkammer“und bringt die Ambivalenz ihrer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft ironisch zum Ausdruck: „gute nacht mein liebes glumpert / ich hab zuviel von euch / aber nicht genug.“
Nach dem Krieg und der nachgeholten Matura studierte die Autorin Medizin, später auch Psychologie und Germanistik. Zugleich entstanden ihre ersten Texte, die ab 1955 vor allem in den Zeitschriften „Neue Wege“und „Das jüdische Echo“erschienen. Gerstl war unter anderem mit Andreas Okopenko befreundet und mit Walter Buchebner; mit ihrem späteren Mann Gerald Bisinger trat sie in ersten Lesungen auf. Die Geburt der gemeinsamen Tochter brachte es mit sich, dass sie sich vom Studium ab- und verstärkt der literarischen Produktion zuwandte. Die Einladung in das Literarische Colloquium Berlin 1964 führte dazu, dass sie die nächsten sieben Jahre hauptsächlich in Berlin verbrachte. In dieser Zeit entstanden ihre sprach- und gesellschaftskritischen Hörspie- le und ihr Roman „Spielräume“, der jedoch erst 1977 veröffentlicht wurde – ein Stück Literatur, das unbedingt wieder wahrgenommen werden sollte!
Zurück in Wien, engagierte sie sich für Angelegenheiten der Autorinnen und Autoren, wurde 1973 Gründungsmitglied der Grazer Autorenversammlung GAV und lernte ihren Lebensgefährten Herbert J. Wimmer kennen. War es Berlin, das sie so politisiert hatte oder die Zeit? Jedenfalls ist den Hörspielen, dem Roman und den Essays aus jenen Jahren ein deutliches politisches Engagement abzulesen. Unter dem Titel „Narren & Funktionäre“erschienen 1980 ihre „Aufsätze zum Kulturbetrieb“. Später kuratierte sie Sondernummern der Literaturzeitschriften „Wespennest“oder „freibord“, gab Anthologien heraus und organisierte Modeschauen und eine Kleiderinstallation mit dem poetischen Titel „Kleiderflug“.
Oft wurde sie durch Szenen in diversen Wiener Innenstadtlokalen und in ihrem Kleiderdepot zu Wortwitz und philosophischen Betrachtungen inspiriert; empfehlenswert ist etwa die „Falter“-Serie „Freundinnengespräche“aus den frühen 1990erJahren. Immer war es der einzelne Mensch, den sie in ihren Texten fokussierte, der Einzelne, der vor der Gesellschaft steht und sich gegenüber dem anderen sprachlichkonkret verhalten muss. Wie sie Hüte und Kleider sammelte, neu arrangierte und ausstellte, tat sie es auch mit Gesprächsfetzen, diversen Jargons und dem Wienerischen. Das Material macht die komische Wirkung, sein Arrangement den sprachkritisch-philosophischen Tiefgang ihrer Literatur aus.
Die Bände der Werkausgabe sollten vom Ende her gelesen werden: Dort findet man aufschlussreiche Nachworte, in denen Gerstls Lebens- und Schreibzusammenhänge zur Darstellung gelangen. Daraus geht klar hervor, wie aktiv Gerstl das literarische Leben Österreichs mitgestaltete: Unter anderem kooperierte sie mit Gustav Ernst und Gerhard Jaschke, mit Elfriede Czurda und Elfriede Jelinek und wurde von Franz Schuh kommentierend sowie von Konstanze Fliedl editorisch auf ihrem Weg begleitet.
Es sind vor allem die Nachwörter der Erstausgaben, die verstreut publizierten Essays, Leserbriefe, Buchrezensionen, Gespräche und Interviews, die Preisreden und Erinnerungen sowie die erstmals aus dem Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek publizierten Texte, die den großen Wert dieser Sammlung ausmachen. Man kann den Aufwand nur erahnen, mit dem dieses „Glumpert“in die Ordnung einer Werkausgabe gebracht wurde. Die bisher bekannten Texte werden zu einem „Universum Gerstl“erweitert und in beeindruckender Komplexität erstmals zugänglich gemacht. Hier wird der theoretische und politische Zusammenhang deutlich, dem sich das so leichtfüßig erscheinende Werk von Elfriede Gerstl verdankt. Es ist experimentelle Literatur mit gesellschaftspolitischer Wirkung: „alles was man sagen kann / kann man auch beiläufig sagen.“