Reibungslos durch die Nacht
Russland. Bei einer mitternächtlichen Radtour durch Moskau verstrahlt die Metropole Imposanz. Man entdeckt dabei aber auch andere, stille Gesichter der Stadt – und hat den Roten Platz fast für sich allein.
Als sich die Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen, schälen sich immer mehr Silhouetten geisterhaft aus dem Nachtschwarz heraus. Lenin schaut dort mit sturem Blick vor sich hin. Auch Stalin. Breschnew. Und viele andere historische Sowjetgestalten, deren glorifizierende Steinebenbilder mit dem Umbruch gestürzt wurden. Ja, mehrere Hundert Statuen sind es insgesamt, die in der Open-Air-Ausstellung im Skulpturenpark am Rand des Gorki-Parks ausrangiert wurden und ihre voraussichtlich letzte Ruhe gefunden haben.
Nachts mitten in Moskau zwischen all diesen Schatten der Vergangenheit herumzuspuken hat etwas Unheimliches. Gleichzeitig aber sorgt dieses Heer der Steinköpfe für einen faszinierenden Stopp auf dieser ungewöhnlichen Radtour, die erst dann startet, wenn viele der Touristen nach einem langen Sightseeing-Tag durch Moskau todmüde in die Laken sinken oder lieber durch die Clubs ziehen, als in die Pedale zu treten. Es ist kurz vor Mitternacht, als sich die Gruppe mit den Rädern in Bewegung setzt – bis zum Morgengrauen soll die Tour dauern.
Schneller Brüter
Der Guide durch die Nacht heißt Vado, ist 38 Jahre alt, hat eine drahtige Figur, etwas koboldhafte Haare und ist ein besessener Fahrradfahrer. Das Radeln sei gesund, sagt er, und spüle ihm Endorphine ins Blut. Kein Wunder, dass er mit seinen Moscow Bike Tours vor einigen Jahren ein kleines Business daraus gemacht hat. „Als ich klein war, hatte die Stadt nur fünf Millionen Einwohner“, sagt der gebürtige Moskauer. Heute habe sich die Zahl mehr als verdreifacht. „Tagsüber ist der Verkehr furchtbar. Es ist sehr voll.“Nachts ist das natürlich anders, dann kann man die Stadt vielerorts menschenleer und ganz ruhig erleben. Überdies ist die Luft frischer – genau deshalb ist dies auch Vados Lieblingstour.
Trotzdem kann selbst zu stark fortgeschrittener Stunde keine Rede davon sein, dass Moskau in einen Tiefschlaf fällt. Mancherorts wird erst richtig spät voll aufgedreht. Als die Radler etwa am Ufer der Moskwa anhalten, wummern von der aufgeschütteten Jakimanka-Insel aus dem „Roter Oktober“-Areal die Bässe und dringen Techno und Elektropop dumpf ins Freie. Bis vor etwas mehr als zehn Jahren war der alte Backsteinbau eine berühmte Schokoladenfabrik. Danach entstand auf dieser Insel in Sichtweite des Kremls ein beliebtes Entertainmentzentrum mit Galerien, Restaurants und eben angesagten Clubs.
Trotz der ungewöhnlichen Uhrzeit funktioniert das Mitter- nachtsradeln auch bestens als Sightseeing-Tour, bei der Moskau leuchtet und strahlt. „So ist die Stadt viel schöner“, findet der Guide, der immer wieder Stopps einlegt, vor allem für Panoramaaussichten auf die Metropole und die eindrucksvollen Bauwerke, die bunt illuminiert gegen die Dunkelheit anleuchten.
Die Radtour wird zum architektonischen Streifzug durch unterschiedlichste Epochen: von der Zarenzeit über den Stalinismus bis zur Glas-Stahl-Moderne der PostSowjetära, von Ministerien zu Botschaften. Vom NowodewitschiKloster, einem Unesco-Welterbe, bis zum „Goldenen Gehirn“, dem Sitz der Akademie der Wissenschaften. Die Erlöserkirche ist erst nach der Sowjetzeit errichtet wor-
Moskau ist heutzutage sicher, ein paar Betrunkenen begegnet man vielleicht einmal, das ist alles.
den. Selbst aus der entfernung sieht man, wie enorm die Ausmaße dieses Gebäudes sind. „Das Original wurde 1931 gesprengt“, erklärt Vado. „Stattdessen hat man das weltweit größte Freibad der Welt dorthin gebaut, bis nach dem Umbruch die größte orthodoxe Kirche der Welt hier wieder aufgebaut wurde.“
Abgesehen von den Sehenswürdigkeiten entdeckt man auf der Tour ganz unterschiedliche Gesichter der Metropole und landet an Orten, an die man sonst kaum gekommen wäre – schon gar nicht um diese Uhrzeit: fotogene Orte urbaner Verlassenheit wie mancher U-Bahneingang, durch den tagsüber die Moskauer strömen; oder einsame Parks, in denen man sich auch in dieser einsamen Zeit nie unsicher fühlt, denn selbst nachts sind sie beleuchtet. Und bei Vado fühlt man sich ohnehin bestens aufgehoben. „Moskau ist heutzutage sicher, ein paar Betrunkenen begegnet man vielleicht einmal – das ist alles“, sagt der 38-Jährige, der langsam vornweg radelt. Gerade richtig, dass die Umgebung nicht einfach nur vorbeirauscht.
Kleine Bergwertung
Nur einmal muss man etwas angestrengter in die Pedale treten: als es die Sperlingsberge hinaufgeht, der Anhöhe in diesem Naherholungsgebiet. Oben angekommen, hört man Motoren aufheulen. Autos beschleunigen. Sobald man aus der Grünzone wieder draußen ist, heißt es daher: so schnell wie vorsichtig rüber über den breiten Boulevard, der nachts gern zur illegalen Rennstrecke für Porsches, Ferraris und Motorräder wird. Dahinter thront auf den Sperlingsbergen das monumentale Gebäude der Universität.
Vado hat hier studiert, Geografie. „Damals bin ich jeden Tag mit dem Rad zu den Vorlesungen gefahren. Ich war aber der einzige Irre, denn damals gab es auf den Sperlingsbergen die asphaltierten Wege noch nicht“, erzählt er, während er auf den Bau deutet. er ist mit 240 Metern das höchste Objekt der sogenannten Sieben Schwestern, die Stalin bis zu seinem Tod in Moskau errichten ließ: Hochhäuser im Zuckerbäckerstil, die nachts im gelben und weißen Licht wie monumentale Paläste herausstrahlen.
Auch Downtown-Moskau hat eine Skyline, allerdings aus modernen Wolkenkratzern. ein Blick aus der Ferne muss an diesem Abend aber genügen, denn so weit soll nicht mehr geradelt werden. Schon gar nicht, wenn Aussicht darauf besteht, sich in einem verwaisten Coffee-Shop für die letzte etappe dieser Radel-extravaganza gegen drei Uhr früh noch einmal aufzumöbeln. Der Kaffee bringt aber nicht viel, es wird Zeit, durch die verlassene Fußgängerzone zurückzukehren. „In der Nacht kann man problemlos überall herumfahren, wo es tagsüber kaum oder gar nicht möglich ist“, sagt Vado.
Flugs über den Roten Platz
Das gilt auch für den Höhepunkt der Radtour ganz zum Schluss, der dafür sorgt, dass die müden Geister noch einmal hellwach werden: der Rote Platz mit seinen eindrucksvollen Ausmaßen. 330 Meter lang und 70 Meter breit ist er. Tagsüber wird es trotzdem voll. Dann drängeln sich hier die Touristen, die Gruppen, die einheimischen durch das historische Zentrum der Stadt, direkt entlang der KremlMauern zwischen Lenin-Mausoleum und dem berühmten edelkaufhaus Gum. Nachts braucht man mit dem Rad gerade einmal eine Minute zum Überqueren des Roten Platzes. Außerdem kann man so kurz vor Sonnenaufgang vor der berühmten roten Basilius-Kathedrale mit ihren neun bunt gemusterten Kuppeln auch ein erinnerungsfoto ganz ohne andere Touristen machen.
Auf den letzten Metern bekommt die Moskauer Nacht über der Moskwa schon einen zarten Morgenschimmer. Bei den ersten Sonnenstrahlen allerdings sind die Augen zugefallen und der Tag wird zur Nacht gemacht.