Englands Torhüter
Gruppe G. Jordan Pickford, 24, gibt heute für England sein WMDebüt – und muss mit der Tradition brechen.
Jordan Pickford, 24, gibt nach nur drei Testspielen sein WM-Debüt.
Englands Torhüter sind aus zweierlei Sicht berühmt. Zuerst denken alle an Peter Shilton, der von 1970 bis 1990 im Tor der Three Lions stand, 125 Spiele bestritt und als unumstrittene Autorität auf der Torlinie galt. Ist aber die Ehrfurcht an dieser Ikone einmal bewältigt, folgt bei der näheren Betrachtung englischer Keeper bloß Kopfschütteln. Egal, ob Peter Bonetti, David Seaman, David James, Paul Robinson, Robert Green oder Joe Hart – geht es um kapitale, das Spiel heillos verderbende Patzer, war auf Schlussleute der Engländer bei Großereignissen immer Verlass. Es hat Tradition.
Teamchef Gareth Southgate trug dieser Entwicklung Rechnung. Ehe die WM in Russland begann, sortierte er den sowohl bei Manchester, Torino als auch bei West Ham gescheiterten Hart aus. In Russland wird Jordan Pickford, 24, vom FC Everton das Tor hüten. Er erlebt somit heute in Wolgograd mit der Feuertaufe gegen Tunesien zugleich auch seine WM-Premiere. Englands teuerster Keeper
Enttäuschungen erlebten die Engländer sonder Zahl. Seit dem Wembley-Tor und dem Triumph 1966 blieb ihnen bei einer WM das Glück verwehrt. Zumeist unterlief einem Torhüter ein Lapsus, oder es war in einem Elfmeterschießen (1990, 1998, 2006) Endstation. Brasilien 2014 war der Tiefpunkt, das erste Vorrunden-Aus seit 56 Jahren stürzte das Land mit dem höchstbezahltem TV-Vertrag (fünf Milliarden Euro) für seine Fußballliga in tiefe Selbstzweifel.
Pickford ist quasi die Antwort auf alle Sorgen. Bereits in der U21-Mannschaft setzte Southgate auf den Schlussmann. Jetzt avanciert er zum jüngsten Keeper der englischen Fußball-Historie – ohne Pflichtspiel. Er stand bei drei Testspielen im Tor, zuletzt beim 2:1 gegen Nigeria. Der „Guardian“rechnete penibel vor, dass ihm insgesamt 14 Paraden reichten, um Shiltons Spuren bei der WM zu folgen. England rätselt also, ob er „The Chosen One“ist.
In dieser Betrachtung spielt es keine Rolle, dass er 2017 für 34 Millionen Euro von Sunderland zu den Toffees gewechselt war – als teuerster britischer Torhüter. Höhere Ablösen schafften international nur Gianluigi Buffon (53 Mio. Euro, AC Parma – Juventus) oder der Brasilianer Ederson (40 Mio. Euro, Benfica – Manchester City).
Geld ist in der Premier League allerdings kein Gradmesser mehr, England sehnt sich nach messbaren Erfolgen. nach dem ersten Sieg in einem K.-o.-Spiel bei einer WM oder EM seit zwölf Jahren, und das soll erst der Anfang gewesen sein.
Pickfords Reflexe werden mit Argusaugen verfolgt. Dass sein linker Fuß dienlich ist, den in England so begehrten, geschätzten schnellen Spielaufbau voranzutreiben, ist bekannt. 69 Partien in der höchsten Liga, drei Auftritte in der Europa League, diese Partien kann er auf seiner Vita vorweisen. Mit zielgerichteten Abschlägen kann Pickford sogar Vorlagen für den Torschuss liefern, Stürmer Harry Kane in Szene setzen. Darauf baut Southgate. Das Tückische daran: Genau das weiß jeder Gegner.
Auch dass Pickford mit 1,85 Metern Körpergröße nicht der größte Torhüter ist, bereitet Medien Kopfzerbrechen. Reichweite, Zweikampf – in England ist es ein ehernes Gesetz, dass der Keeper jede Flanke oder jeden Eckball „haben“muss. Koste es, was es wolle. Was aber, wenn nicht? Natürlich, britischer Humor
Southgate riskiert diesen Stilbruch. Denn der nächste Ersatzmann wäre Jack Butland. 1,95 Meter groß, aber von Absteiger von Stoke City. Und wie Joe Hart alles, nur nicht fehlerfrei. Southgate baut insofern auch vor, indem er in Erwägung gezogen hat, dass England mit einer Fünferkette auftritt. Damit dem Keeper, in der Not, Hilfe parat steht.
Im Endeffekt resultiert Englands Erfolglosigkeit aus einem Mangel an Qualität. Legionäre prägen in der Liga die Spielzüge, bei Topklubs sind Engländer (bis auf Ausnahmekönner wie Kane oder Alli) nur noch Ergänzungsspieler. Dass es gegen Panama und Tunesien keine Diskussionen geben darf, hat Southgate betont. Die Entscheidung um den Gruppensieg wird gegen Belgien fallen.
Was soll’s, wird sich Southgate vor Anpfiff heute denken. Er riskiert es, der Youngster wird spielen. Er sagt, dass selbst Shilton 1974 einmal so unerklärlich daneben gegriffen hätte, dass England daraufhin die WM verpasste. Das ist britischer Humor. Schwarzmalen, ehe es überhaupt losgegangen ist, dafür bis zum Untergang.