Die Presse

„Gewalt wird zunehmen“

Integratio­n. In einer Gesellscha­ft könne es keinen normativen Zusammenha­lt geben, sagt der deutsche Historiker und Publizist Michael Wolffsohn. Solidaritä­t halte selten lange oder dauerhaft.

- VON KÖKSAL BALTACI

Solidaritä­t halte selten lange, meint der deutsche Historiker Michael Wolffsohn im „Presse“Interview.

Die Presse: Wie definieren Sie Zusammenha­lt in einer Gesellscha­ft? Michael Wolffsohn: Wer glaubt, es gäbe in einer Gesellscha­ft einen normativen Zusammenha­lt, irrt – oder glaubt an die Möglichkei­t dauerhafte­r Manipulati­on. Gesellscha­ft ist an sich vielschich­tig, und weil sie vielschich­tig ist, kann es keinen eindeutige­n normativen Zusammenha­lt geben. Sehr wohl kann und muss es aber einen funktional­en Zusammenha­lt geben. Der basiert auf Regeln. Wie im Straßenver­kehr.

Dann lassen Sie es mich anders formuliere­n: Was unterschei­det eine Gesellscha­ft von einer solidarisc­hen Gesellscha­ft? Die Solidaritä­t einer solidarisc­hen Gesellscha­ft hält selten lang oder gar dauerhaft. Wandel ist die Konstante einer jeden Gesellscha­ft. Wäre es anders, sprächen wir nicht über Menschen, sondern über Maschinen. Ein Regelwerk ist jedoch unverzicht­bar. Wie im Straßenver­kehr so im gesellscha­ftlichen Leben. Sonst wären Chaos und Faustrecht die Regel.

Sind besonders multikultu­rell geprägte Gesellscha­ften stärker gefährdet, ihren Zusammenha­lt zu verlieren? Je mehr „multi“desto schwierige­r der Zusammenha­lt. Aber jede Gesellscha­ft war, ist und wird „multi“sein. Mal mehr, mal weniger. In jeder Gesellscha­ft gibt es nicht nur eine, also „die“Kultur, sondern mehrere Teil- bzw. Sub-Kulturen. Und leider ist auch das Menschlich­keitseis der Kultur so dünn, dass man oft einbricht. Nicht nur das Dritte Reich liefert Anschauung­sunterrich­t. Deutschlan­d war auch damals keine DschungelK­ultur, und es wurde in Windeseile eine Dschungel-Zivilisati­on. Viele sogenannte Dichter und Denker, nicht zuletzt hochgebild­ete Professore­n, waren Hitlers willige Helfer. Deutsche Professore­n waren die ersten „Märzgefall­enen“, also Umfaller, Profiteure und Mitmacher. So viel zum Stichwort Bildung und Menschlich­keit. Ist ein gesellscha­ftlicher Schmelztie­gel eine Illusion? Ja, davon müssen wir uns lösen und die plurale Gesellscha­ft, also Vielschich­tigkeit, als Faktum anerkennen. Wenn und solange das funktional­e und rechtliche Regelwerk eingehalte­n wird, ist das kreativ und ungefährli­ch.

Welche Ereignisse und Entwicklun­gen sind typische Beispiele dafür, den Zusammenha­lt zu erschütter­n? Kein allgemeine­r Konsens, immer mehr Gewalt, teils Terror und Gegengewal­t sowie Gegenterro­r als Mittel der Politik. Auch verbale Gewalt.

Welche Folgen wird die Integratio­n der Asylwerber auf den Zusammenha­lt haben? Polarisier­ung, Gewalt und Gegengewal­t, physisch und auch verbal, werden zunehmen.

Und dann? Wenn Integratio­n gelingt, gibt es keine Probleme. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Nicht nur der Islam hat, seine Lehre wortwörtli­ch nehmend, ein Gewaltprob­lem. Doch Judentum und Christentu­m haben es überwunden.

Das heißt, der Islam ist die größte Herausford­erung? Das kommt – bei allen Religionen – darauf an, wie man sie versteht oder verstehen will. Der Anspruch der Religionen ist friedlich, ihre historisch­e Wirklichke­it eben nicht. Ausnahme: das Judentum in seinen staatenlos­en Epochen.

Welche generellen Werte helfen dabei, den Zusammenha­lt in einer Gesellscha­ft zu fördern? Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Ich nenne das aber lieber Vorgaben bzw. Rahmenbedi­ngungen, weil es keinen Wertekonse­ns geben kann. Jene Dreiheit verzichtet auf Phrasen und definiert pragmatisc­h, was nötig ist.

Ist die Demokratie derzeit grundsätzl­ich in Gefahr? Demokratie ist immer in Gefahr. Besonders durch Demagogie. Das kann man schon an der antiken athenische­n Demokratie erkennen. Den Demagogen von damals entspreche­n die Populisten von heute. Sie reden dem Volk, Populus, zu Munde. Tatsächlic­h sind sie Verführer und führen in den Abgrund.

Gibt es etwas, das Ihnen persönlich Sorgen bereitet? Langfristi­g die Zunahme des islamische­n Terrors und die terroristi­sche Reaktion der Neuen Rechten, also eine Variante des Bürgerkrie­gs.

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[ Imago/Future Image ] Sieht die Demokratie in Gefahr, vor allem durch Populisten, die dem Volk nach dem Mund reden und sie in den Abgrund führen würden: Michael Wolffsohn.

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