Was Pok´emon Go und die Wiener Festwochen gemeinsam haben
Komplizierte Zusammenhänge möglichst fremdwortfrei zu erklären sei die Kunst des Qualitätsjournalismus: ein Leitsatz des Paradejournalisten Thomas Chorherr.
Voriges Jahr konnte man sich bei der Lektüre des Wiener Festwochenprogrammhefts wenigstens noch schlapplachen, weil derart hochgeschwollen über niederschwellige Theaterformen geschwurbelt wurde. Und heuer? Haben die Kuratorinnen und Kuratoren brav die Trendränder und Subversivzentren nach Kraut und Rübigem abgegrast, haben Wien, wenn schon nicht zur hochkarätigen Theaterkunstmetropole, so zumindest zum bemühten Avantgarde-Dörfl gemacht und ihr Programm (sowie das dazugehörige Heft) mit einem neuen Begriff geflutet: immersiv. Immersiv? Ja, immersiv. So sexy, trendy, cool, so in und so mega.
Immersiv ist das neue interaktiv. Nein, mehr als das. Interaktiv war, immersiv ist. Immersiv ist mindestens die Zehnerpotenz von performativ, kontextuell, kurativ, installativ, diskursiv, induktiv, konzeptuell, antikonform, normativ, degenerativ, integrativ, subsidiär, invers, affirmativ, erosiv (Fortsetzung nach Belieben). Immersiv also, das einverleiben sich die teils bildungsfern und sprachdefizitär aufgewachsenen Burschen und Mädchen, die man eigentlich niederschwellig für Kunst begeistern will, urgut; Heast, gemma immasiv. Wo? Gösserhalle. Klingt verführerisch. Echt.
Während meines Publizistikstudiums hatte ich Glück und ergatterte einen Platz im Blockseminar von Thomas Chorherr, eines klugen Journalisten und strengen Lehrers. Samstag, vier Stunden. Seine Lehrveranstaltung war eines der wenigen berufsnahen Praxisseminare (bei einem Fernsehmann bestand die praktische Übung nur aus Ausflügen in die Zentralmaschinenräume des ORF), folglich: Riesenandrang. Man musste für die Anmeldung früh aufstehen, online gab’s nicht, auch nicht das Handy. Thomas Chorherr kannte keinen Spaß, wer zu spät kam, flog: „Sie können zu einer Pressekonferenz oder Theaterpremiere auch nicht eine halbe Stunde zu spät antanzen!“
Wir lernten schnell (zumindest das Pünktlichsein). Schrieben Übungsartikel ohne Ende. Verinnerlichten journalistische Tugenden wie Objektivität, präzise Recherche nach dem Check-recheckdouble-check-Prinzip, die strikte Trennung von Kommentar und Bericht sowie die für jeden Artikel bis heute unverhandelbaren Ws (wer, was, wo, wann, warum und wie). Wir lasen Alfred Polgar, Anton Kuh und versuchten, Chorherr mit linken, revolutionär basismarxistischen Ansichten zu piesacken. Fehlanzeige. Waren die Argumente gut, ließ er sie gelten.
Richtig fuchtig wurde Chorherr nur, wenn wir unsere journalistischen Gehversuche mit Fremdwörtern pfefferten: „Gehen Sie ins Kaffeehaus und schauen Sie, ob die Menschen, die dort Zeitung lesen, mit Ihrem Geschwurbel etwas anfangen könnten. Komplizierte Zusammenhänge möglichst einfach, fremdwortfrei und trotzdem sprachlich elaboriert zu formulieren, ist hohe Kunst. Das ist Qualitätsjournalismus.“Danke, Thomas Chorherr.
Aber weil der Kunstdiskurs ständig neues Sprachfutter braucht, und um auf der Höhe der Zeit zu sein, grapschten auch wir Kulturjournalisten im Frühjahr dankbar nach dem angeblich neuen, festwochenverordneten Sprachschätzlein „immersiv“.
Einige wenige waren sogar hilfsbereit und klärten ihre Leserinnen und Leser auf, was darunter zu verstehen sei. Hergeleitet vom lateinischen immergere (Lateinunterricht! Doch kein Orchideenfach!), das ursprünglich soviel wie Eintauchen eines Körpers oder Gegenstands in eine Flüssigkeit bedeutet, versteht man darunter das Eintauchen in Kunst wie in einen 3-D-Film. In Wahrheit ist immersiv aber sowieso nicht der ultimative neue Schrei, die Computer- und Videospielszene beschrieb damit schon im 20. Jahrhundert den Effekt, den virtuelle, fiktionale Welten auf die Betrachter haben: nämlich die verminderte Wahrnehmung in der realen und die zunehmende Identifizierung mit der fiktiven Welt. Pokemon-´Go war übrigens superhyperimmersiv.
Spannend, welches Wort nächstes Jahr via Festwochen eingeschleppt wird.