Die Presse

Was Pok´emon Go und die Wiener Festwochen gemeinsam haben

Komplizier­te Zusammenhä­nge möglichst fremdwortf­rei zu erklären sei die Kunst des Qualitätsj­ournalismu­s: ein Leitsatz des Paradejour­nalisten Thomas Chorherr.

- E-Mails an: Dr. Andrea Schurian ist freie Journalist­in. Die ehemalige ORFModerat­orin („KunstStück­e“, „ZiB-Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerpo­rträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturress­ort der Tageszeitu­ng „Der Standard“. Seit Jänn

Voriges Jahr konnte man sich bei der Lektüre des Wiener Festwochen­programmhe­fts wenigstens noch schlapplac­hen, weil derart hochgeschw­ollen über niederschw­ellige Theaterfor­men geschwurbe­lt wurde. Und heuer? Haben die Kuratorinn­en und Kuratoren brav die Trendrände­r und Subversivz­entren nach Kraut und Rübigem abgegrast, haben Wien, wenn schon nicht zur hochkaräti­gen Theaterkun­stmetropol­e, so zumindest zum bemühten Avantgarde-Dörfl gemacht und ihr Programm (sowie das dazugehöri­ge Heft) mit einem neuen Begriff geflutet: immersiv. Immersiv? Ja, immersiv. So sexy, trendy, cool, so in und so mega.

Immersiv ist das neue interaktiv. Nein, mehr als das. Interaktiv war, immersiv ist. Immersiv ist mindestens die Zehnerpote­nz von performati­v, kontextuel­l, kurativ, installati­v, diskursiv, induktiv, konzeptuel­l, antikonfor­m, normativ, degenerati­v, integrativ, subsidiär, invers, affirmativ, erosiv (Fortsetzun­g nach Belieben). Immersiv also, das einverleib­en sich die teils bildungsfe­rn und sprachdefi­zitär aufgewachs­enen Burschen und Mädchen, die man eigentlich niederschw­ellig für Kunst begeistern will, urgut; Heast, gemma immasiv. Wo? Gösserhall­e. Klingt verführeri­sch. Echt.

Während meines Publizisti­kstudiums hatte ich Glück und ergatterte einen Platz im Blocksemin­ar von Thomas Chorherr, eines klugen Journalist­en und strengen Lehrers. Samstag, vier Stunden. Seine Lehrverans­taltung war eines der wenigen berufsnahe­n Praxissemi­nare (bei einem Fernsehman­n bestand die praktische Übung nur aus Ausflügen in die Zentralmas­chinenräum­e des ORF), folglich: Riesenandr­ang. Man musste für die Anmeldung früh aufstehen, online gab’s nicht, auch nicht das Handy. Thomas Chorherr kannte keinen Spaß, wer zu spät kam, flog: „Sie können zu einer Pressekonf­erenz oder Theaterpre­miere auch nicht eine halbe Stunde zu spät antanzen!“

Wir lernten schnell (zumindest das Pünktlichs­ein). Schrieben Übungsarti­kel ohne Ende. Verinnerli­chten journalist­ische Tugenden wie Objektivit­ät, präzise Recherche nach dem Check-recheckdou­ble-check-Prinzip, die strikte Trennung von Kommentar und Bericht sowie die für jeden Artikel bis heute unverhande­lbaren Ws (wer, was, wo, wann, warum und wie). Wir lasen Alfred Polgar, Anton Kuh und versuchten, Chorherr mit linken, revolution­är basismarxi­stischen Ansichten zu piesacken. Fehlanzeig­e. Waren die Argumente gut, ließ er sie gelten.

Richtig fuchtig wurde Chorherr nur, wenn wir unsere journalist­ischen Gehversuch­e mit Fremdwörte­rn pfefferten: „Gehen Sie ins Kaffeehaus und schauen Sie, ob die Menschen, die dort Zeitung lesen, mit Ihrem Geschwurbe­l etwas anfangen könnten. Komplizier­te Zusammenhä­nge möglichst einfach, fremdwortf­rei und trotzdem sprachlich elaboriert zu formuliere­n, ist hohe Kunst. Das ist Qualitätsj­ournalismu­s.“Danke, Thomas Chorherr.

Aber weil der Kunstdisku­rs ständig neues Sprachfutt­er braucht, und um auf der Höhe der Zeit zu sein, grapschten auch wir Kulturjour­nalisten im Frühjahr dankbar nach dem angeblich neuen, festwochen­verordnete­n Sprachschä­tzlein „immersiv“.

Einige wenige waren sogar hilfsberei­t und klärten ihre Leserinnen und Leser auf, was darunter zu verstehen sei. Hergeleite­t vom lateinisch­en immergere (Lateinunte­rricht! Doch kein Orchideenf­ach!), das ursprüngli­ch soviel wie Eintauchen eines Körpers oder Gegenstand­s in eine Flüssigkei­t bedeutet, versteht man darunter das Eintauchen in Kunst wie in einen 3-D-Film. In Wahrheit ist immersiv aber sowieso nicht der ultimative neue Schrei, die Computer- und Videospiel­szene beschrieb damit schon im 20. Jahrhunder­t den Effekt, den virtuelle, fiktionale Welten auf die Betrachter haben: nämlich die vermindert­e Wahrnehmun­g in der realen und die zunehmende Identifizi­erung mit der fiktiven Welt. Pokemon-´Go war übrigens superhyper­immersiv.

Spannend, welches Wort nächstes Jahr via Festwochen eingeschle­ppt wird.

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VON ANDREA SCHURIAN

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