Risiko für harten Brexit steigt
Großbritannien. Die Zeit für einen geordneten EUAustritt wird immer knapper – wegen interner Querelen.
Wegen interner Querelen wird die Zeit für einen geordneten EU-Austritt knapp.
Es hätte der Gipfel der Entscheidungen werden sollen – das Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs kommende Woche in Brüssel hatte bis dato als jener Moment gegolten, an dem Großbritannien, die EU-27 und die Kommission ihre Karten auf den Tisch legen und einen Fahrplan für den britischen EU-Austritt am 29. Marz 2019 formulieren. Doch dazu wird es aller Voraussicht nach nicht kommen. Erstens, weil die EU mit anderen Themen beschäftigt ist – etwa der neuerlichen politischen Eskalation der Flüchtlingskrise (siehe Seite 1). Und zweitens in Ermangelung auf dem Tisch liegender Karten. Denn während das Verhandlungsteam der EU, das vom ehemaligen Kommissar Michel Barnier angeführt wird, kontinuierlich an den möglichen Parametern des Brexit feilt, ist die britische Seite immer noch primär mit sich selbst beschäftigt.
Seit Wochen sind die Kapazitäten des Kabinetts von Premierministerin Theresa May wegen des Unterhauses ausgelastet. Ein Teil der Abgeordneten (unter ihnen zahlreiche proeuropäische Parteimitglieder von May) wollte zuletzt – und bis dato ohne Erfolg – erreichen, dass das Parlament Einfluss auf den Lauf der Verhandlungen mit Brüssel nimmt und die Regierung notfalls dazu bewegen kann, nachzuverhandeln. Mays Gegenargument: Die Mitsprache des Parlaments erschwert die britische Verhandlungsführung.
So unerfreulich die Verzögerung für die Verhandler dies- und jenseits des Ärmelkanals ist – die parlamentarischen Querelen verdecken zumindest momentan die Tatsache, dass die regierenden Tories selbst zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum immer noch nicht wissen, welchen Brexit sie denn gerne hätten – einen weichen mit breiter Anbindung an den EUBinnenmarkt oder einen harten mit mehr handelspolitischem Spielraum, aber höheren wirtschaftlichen Kosten.
Für alles bereit
Am Sonntag kündigte May ihren Offenbarungseid für den Juli an – davor soll eine Regierungsklausur im Juli interne Einigung über die britische Mitgliedschaft in der Zollunion bringen. Damit verbunden ist die Frage, inwieweit sich nach dem Brexit Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland vermeiden lassen – wie May es im vergangenen Dezember versprochen hatte. Alle bisher in London kursierenden Vorschläge gelten erstens als unausgegoren und wurden zweitens von den EUVerhandlern bereits abgelehnt.
Das im Vorfeld fixierte Austrittsdatum wird somit immer mehr zum Problem. Im Entwurf der nächstwöchigen GipfelSchlussfolgerungen werden die EU-27 angewiesen, „Vorbereitun- gen auf allen Ebenen für jedes Ergebnis“zu intensivieren – einschließlich eines chaotischen Ausscheidens der Briten aus der Union. Denn ohne eine Einigung im Vorfeld wird auch das EU-Angebot einer Übergangsfrist bis Ende 2020 – zumindest theoretisch – hinfällig. Und da ein etwaiger Deal sowohl von den Briten als auch von den EU-Institutionen und allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden muss, wird der Verhandlungsspielraum immer enger.
Für Premierministerin May, die ständigem Druck der eingefleischten Europagegner in ihrer Partei ausgesetzt ist, verkleinert sich der Aktionsradius auch aus einem anderen Grund: Die britischen Wähler scheinen das permanente Hickhack sattzuhaben und einen Brexit um jeden Preis zu präferieren. Gemäß einer am Dienstag veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsinstituts Lord Ashcroft Polls sprechen sich 41 Prozent der Briten für den EU-Austritt aus, selbst wenn er zu Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland führen würde. Und 63 Prozent der Befragten sind selbst um den Preis einer Aufspaltung des Vereinigten Königreichs für den Brexit.